Kindheitsmuster
muß sie es hin und wieder tun – nie drückt sie eine Spinne tot –, um ihren Ruf nicht aufs Spiel zu setzen: Die Nelly faßt alles an; Spinnen, Kröten, Fliegen – einfach alles. Kröten und Fliegen bleiben vom Ekel einstweilen verschont.
(Heikel bis heute, der Verbindung nachzugehen, die sich damals zwischen dem namenlosen Judenjungen, den Nelly durch Leo Siegmann kannte, und der weißen Schlange hergestellt haben muß. Was hat der blasse picklige Junge mit Kröten, Spinnen und Eidechsen zu tun? Was diese wiederum mit der gläubigen fanatischen Stimme, die in jener Sonnwendnacht vom brennenden Holzstoß her rief: »Rein wollen wir uns halten und unser Leben reifen lassen für Fahne, Führer und Volk!« – Nichts, möchtest du sagen, nichts haben sie miteinander zu tun. So muß die richtige Antwort lauten, und was gäbest du darum, wenn sie auch noch wahr wäre. Ein Mann deines Alters, dem nach seiner eigenen Aussage seine Kindheit ins »Nichts« versunken ist, erklärt: Bis heute könne er nicht unbefangen – das heißt ohne Schuldgefühl – mit einem Juden reden. Du überlegst, wie man ohne die Kenntnis der eigenen Kindheit Bildnisse machen kann – der Mann ist Bildhauer –, zum Beispiel für Kinder. Kein Vorwurf. Eine Frage.)
Wie, weiß man also nicht. Doch es geschah, daß sie, Nelly, durch eine Vermischung und Verquickungscheinbar entlegener Bestandteile das Wort »unrein« nicht mehr hören konnte, ohne gleichzeitig Ungeziefer, die weiße Schlange und das Gesicht jenes Judenjungen zu sehen. Wir wissen wenig, solange wir nicht wissen, wie dergleichen geschieht; solange man sich nur wundern kann, daß in Nelly mit jenen Bildern nicht Haß oder Abscheu aufkam, sondern Scheu – ein Gefühl, sehr nahe den Vorstufen der Angst.
Jedenfalls mied sie das Unreine, auch in Gedanken, und stimmte laut, vielleicht überlaut, in ein Lied ein, das sie kannte wie jedermann; man mußte es nicht lernen, es lag in der Luft (»Maikäfer, flieg« braucht auch kein deutsches Kind zu lernen oder »Ri-ra-rutsch, wir fahren in der Kutsch« oder »Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch das Gänseschmalz«): »Judenköpfe rollen, Judenköpfe rollen, / Judenköpfe rollen übern Bürgersteig, / Blut, Blut, Bluhuhut, / Blut muß fließen knüppelhageldick, / wir pfeifen auf die Freiheit / der Sowjetrepublik.«
Nelly – hat sie je den Kopf des blassen Judenjungen, des ihr schmerzlichen bekannten, rollen sehen? Die Antwort lautet nein, und zum Glück ist sie wahr.
Der Giebel des Jordanschen Hauses taucht über dem Hügelrand auf (ihr seid umgekehrt). An dem Giebel, Lenka – müßtest du sagen, sagst es aber nicht – pflegte Schnäuzchen-Opa zu Fest-und Feiertagen die Hakenkreuzfahne zu hissen. Er steckte sie aus dem Bodenfenster und mußte sie innen mit einem komplizierten System von Schnüren befestigen, weil keine Haltevorrichtung für eine Fahnenstange angebracht war, am ganzen Haus nicht. Die Tatsache beweist nicht viel. Nelly hat nie ein Wort für oder gegen die Fahne gehört.Es war selbstverständlich, daß sie hing, seit wann übrigens? Irgend jemand aus der Familie – wahrscheinlich Charlotte, denn Bruno Jordan tätigte keine Einkäufe in Textilläden – muß sie einmal gekauft und das Tuch Schnäuzchen-Opa übergeben haben, mit der Weisung, es bei entsprechenden Anlässen aus dem Fenster zu hängen. Die Worte, Lenka, und den Gesichtsausdruck bei solchen Anlässen kann man sich ganz gewöhnlich denken, nicht »zerrissen«, wie schlechte Bücher uns glauben machen wollen. Der Alltag, Lenka ... Aber du schweigst.
Die Bahrschen Häuser, die »Gelbe Gefahr«, die »Rote Burg« waren von Hakenkreuzfahnen übersät, obwohl sie doch einst Brutstätten der Kommune gewesen sein sollten, wie Jordans Nachbar Kurt Heese – einst Sparkassenangestellter, jetzt Kassenwart bei der Kreisleitung der NSDAP – bei gelegentlichem Gespräch am Maschendrahtzaun Bruno Jordan wissen ließ.
Nelly, deren Amt es war, allabendlich die Tomatenstauden zu begießen und, wenn notwendig, anzubinden, fing das Wort auf, das sofort in ihr zu arbeiten begann. An Brutstätten kannte sie: Vogelnester (gelegentlich im höheren Gras der Schlucht, meist mit leeren Eierschalen, von Katzen zerstört), Eidechsengelege und die Karnickelnester in den Koben, die Schnäuzchen-Opa in einer Ecke des Gartens aufgestellt hatte. In den Bahrschen Häusern kannte sie zwei Wohnungen: die vom alten Lisicky, der Jordans mit Spargel und Erdbeeren belieferte, und die
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