Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
vorbeikommt ... Auch sie muß vorbeigehn. Auch sie wird ihm also »eine reinhaun«. Oder vielleicht nicht? Er denkt nämlich, sie kriegt es nicht fertig. Darauf kalkuliert er nämlich: Alle Juden sind Spekulanten. Da hat er genau herausgefunden, was sie erst so richtig auf ihn wütend macht. Sie nimmt Anlauf, weiß: Sie muß vorbei, sie muß es tun, es ist ihre Pflicht. Sie strengt sich sehr an. Sie läßt den Film schneller laufen. Aber niemals, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit, da sie den Judenjungen gut kennenlernt, alles weiß, was er denkt – vor allem, was er über sie denkt –, nicht ein einziges Mal gelingt es ihr, an ihm vorbeizukommen. Immer reißt im entscheidenden Augenblick der Film. Immer wird es dunkel, wenn sie ganz dicht vor ihm steht, er schon den Kopf hebt, die Augen leider auch. Sie erfährt nicht, ob sie imstande wäre, ihre Pflicht zu tun.Was sie erfährt, aber lieber nicht wissen will, ist: Sie möchte nicht in die Lage kommen, ihre Pflicht tun zu müssen. Jedenfalls nicht bei diesem Jungen, den sie so genau kennt und daher nicht hassen kann. Das ist ihr Fehler. »Blinder Haß«, ja, das ginge, das wäre das einzig Richtige. Sehender Haß ist einfach zu schwierig.
    Der Führer muß sich blind auf euch verlassen können, darauf kommt es an.
    Ein Unbehagen, das du dir nicht erklären kannst. Du beginnst auf den Weg zu achten: Ihr gingt den Weg am Grunde der Schlucht und nähertet euch der Stelle, die Nelly niemals mehr ohne Unbehagen und nie mehr ohne Eile passieren konnte. Warum sie an jenem späten Nachmittag überhaupt in Richtung Gasanstalt unterwegs war, läßt sich nur noch raten; man ging durch die Schlucht zur Haltestelle, wenn man in Richtung Wepritz fahren wollte, aber wann kam das schon vor? Aus welchem Anlaß ihr der Mann erschien, bleibt rätselhaft.
    »Erschien« – der Ausdruck soll stehenbleiben, obwohl das Erlebnis gewiß nichts Überirdisches, wenn auch etwas Unwirkliches hatte, sicherlich vor allem dadurch, daß Nelly es gar nicht verstand. Daß man sich vor den Pennern zu hüten hatte, die sommers gerne in der Schlucht übernachteten, das wußte jedes Kind. Dieser Mann aber ... Ein Penner schien er nicht zu sein. Er war gut angezogen, gekämmt, sicherlich auch gewaschen. Keiner von denen, die in Heuhaufen schliefen. Nur daß er ausgerechnet am Rande der Müllkippe stand – linker Hand, vor den ersten Eisenbahnerhäusern, war früher ein illegaler Müllabladeplatz – und ihr entgegensah, mit einem Blick ... Saugend, so stellter sich heute dar. Jedenfalls konnte Nelly nicht einfach umkehren und weglaufen, nach Hause, wie sie es gewollt und gemußt hätte. Dieser dringliche, klebrige Blick zog sie weiter, wie am Schnürchen vorbei an diesem fürchterlichen Menschen, der etwas Weißliches, Langes aus seiner Hose herausgeholt hat und daran zieht und zieht, daß es immer länger wird, eine weißliche widerliche Schlange, auf die Nelly starr den Blick heften muß, bis sie die zehn, zwanzig Schritte geschafft hat und der Bann gebrochen ist und sie losrennen kann, hetzen, jachtern.
    Obwohl sie keinen Augenblick lang fürchtete, der Mann werde ihr folgen.
    Wie sie nach Hause kam, weiß niemand mehr. Auch nicht, ob Charlotte etwas »gerochen« hat (ich rieche das, wenn was faul ist!); fest steht, Nelly sagte nichts, weil sie ihr Erlebnis – das sie wirklich nicht verstand, sondern als bildhaften Vorgang aufbewahrte, den sie viel später erst zu deuten wußte – sofort unter diejenigen Vorfälle einordnete, über die strenges, unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren war. Wieso eigentlich? Das wäre eine der Fragen, auf die zu antworten fast unmöglich ist, denn die Antwort könnte sich auf nichts Handgreifliches stützen, müßte sich auf Blicke berufen, ein Flattern der Augenlider, ein Sich-Abwen-den, die Veränderung des Tonfalls mitten im Satz, das Abbrechen der Rede, nicht oder falsch zu Ende geführte Gesten: Jene zahllosen Einzelheiten eben, die strenger als Gesetze regeln, worüber zu reden, was unwiderruflich zu verschweigen ist und wie.
    Es kostet Nelly nun Überwindung, ihre Freunde, die Eidechsen, in die Hand zu nehmen; sie tut es aber, bisihr einmal ein Eidechsenschwanz zwischen den Fingern bleibt, das schwanzlose Tier entschlüpft und ihr jene Gänsehaut über Hinterkopf und Nacken läuft, die in ihrem Leben seltenen Gelegenheiten vorbehalten ist: wenn Ekel und Grauen sich miteinander mischen. Es kann sogar ein Problem werden, Spinnen zu greifen. Zwar

Weitere Kostenlose Bücher