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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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von den Schwestern Martha und Berta Puff, deren eine – Berta – das Gesund- und Warzenwegbeten verstand, was sich an einer Stirnflechte bei Bruder Lutz bestens bewährte. (Tatsächlich, sagt Lutz,denn über die Schwestern Puff läßt sich vor Lenka reden: Nie wieder eine Flechte!) Martha, die Jüngere, die eine mächtige Warze auf der Oberlippe trug, nahm die Aufträge entgegen, führte ihre Schwester zur Kundschaft, machte die Reklame und regelte das Finanzielle. – Zwei Wohnungen kannte Nelly in der »Gelben Gefahr«: die von Irma Huth und die von Christa Schadow, die beide in ihre Klasse gingen. – Eine in der »Roten Burg«: die des taubstummen Schusters, der wunde Kehllaute ausstieß, reinen Fusel aus einer Flasche trank, welche neben dem Tischbein stand, und dessen barfüßige, schmutzige Kinder hinter seinem Rücken mit Topfdeckeln und Stöcken einen Höllenlärm machten. Für eine »Brutstätte« konnte Nelly keine dieser fünf Wohnungen halten. Zwei von ihnen – die in der »Gelben Gefahr« – erreichte man auf ausgetretenen, weißgescheuerten Holztreppen, zwei – die in den Bahrschen Häusern – auf ausgetretenen, mit abgewetztem Lino-leum belegten Holztreppen. Zum taubstummen Schuster mußte man sechs Steinstufen hinuntersteigen, er wohnte im Keller und hatte Fußboden aus roten Ziegelsteinen. Überall kam man hinter der zerkratzten braunen Wohnungstür gleich in die Küchen, deren Einrichtungen sich wenig, deren Sauberkeit sich stark voneinander unterschied: blitzblank bei Huths und Schadows, schmuddelig, von Kräutern verhangen bei den Schwestern Puff, dreckig beim alten Lisicky, der seit langem allein lebte, vollkommen verwahrlost beim taubstummen Schuster, dessen Frau, hieß es, den ganzen Tag in den ungemachten Betten lag und trank.
    Alle diese Wohnungen waren eng und ärmlicher als die Jordansche, und Nelly betrat sie beklommen undverließ sie mit schlechtem Gewissen. Doch Brutstätten ... Hier mußte ein Mißverständnis walten.
    Wie überhaupt jene Jahre, von heute aus gesehen, an Mißverständnissen reich gewesen sein müssen. Als schwerer Irrtum stellte sich zum Beispiel heraus, was Nelly sich bis jetzt über die Herkunft der Kinder zusammengereimt hatte; im Familienkreis Auskünfte einzuholen war ja ein Ding der Unmöglichkeit, und auch die Erfahrungen mit der Karnickelzucht hatten nicht die entscheidende Erleuchtung gebracht. Ihre Freundin Dorle aus »Villa Heimat«, einem unscheinbaren Haus, das aber geheimnisvoll war, weil es, weit von der Straße zurückgesetzt, fast unsichtbar am Hang lag (und heute noch liegt) – sie hat Nelly auf den Leibesumfang der Nachbarin Frau Julich aufmerksam gemacht, der Frau des Terrazzolegers, die, sonst eine Bohnenstange, schon mit offenem Mantel gehen mußte, weil es »bald soweit war«. Nelly, die sich wissend stellte, holte alle erforderlichen Informationen aus Dorle heraus und probierte, ob sie das gleiche schiefe, anzügliche Lächeln zustande brachte wie die. Sie hielt es auch für angebracht, sich bei Elli Julich, der rotblonden Nachbarstochter, über Einzelheiten zu vergewissern. Es zeigte sich, daß jedermann im Bilde war, nur sie nicht. So wurde »Brüderchen«, Julichs rotblond gelockter Sprößling und Stammhalter, der die Nachfolge in seines Vaters Terrazzolegefirma allerdings nicht hat antreten können, das erste Kind, mit dessen Geburt Nelly annähernd zutreffende Vorstellungen verband und für das sie daher ein gewisses Wohlwollen bewahrte, sosehr ihr diese ganze rothaarige Julich-Familie, besonders aber die gleichaltrige Elli mit ihrer kicksigen Stimme und ihren wasserblauen,von kurzen hellblonden Wimpern umrahmten Augen, sonst auf die Nerven ging.
    Das kann sich keiner aussuchen, wie er aussieht, sagte Charlotte. Sonst gäbe es lauter schöne Menschen auf der Welt. – Nelly konnte nicht einsehen, wo da das Unglück wäre.
    Am gleichen Tag, als du in Materialien über die Konzentrationslager gelesen hattest (noch nicht den Lebensbericht von Rudolf Höß, der kam viel später); als du psychiatrische Gutachten gesehen hattest, die Adolf Eichmann – zweifellos zutreffend – als »ordnungsliebend, pflichtbewußt, tierliebend und naturverbunden« bezeichneten, als »innerlich veranlagt« und ausgesprochen »moralisch«; vor allem aber als normal (normaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe, soll einer der Psychiater gesagt haben; seine Einstellung zu Familie und Freunden sei »nicht nur normal, sondern höchst

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