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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Zusammensetzungen, die es später erfuhr: Ruinenstadt, Ruinenlandschaft. Zum erstenmal sah sie, daß die Mauern eines Steinhauses nicht gleichmäßig abbrennen, daß eine bizarre Silhouette entsteht.
    In einem der kleinen Häuser muß es einen dunklen Torweg gegeben haben, in den Nelly sich zurückziehen konnte. Sie wird sich an die Wand oder an einen der Torflügel gelehnt haben. Sie wird ihren dunkelblauen Trainingsanzug angehabt haben. Der Platz war leer, auch die Fenster der kleinen Häuschen rundum waren leer. Nelly konnte nicht dagegen an: Das verkohlte Bauwerkmachte sie traurig. Sie wußte aber nicht, daß es Trauer war, was sie empfand, weil sie es nicht wissen sollte. Sie hatte längst angefangen, ihre wahren Gefühle vor sich selbst zu leugnen. Das ist eine üble Gewohnheit, die sich schwerer als jede andere rückgängig machen läßt: Sie bleibt, kann nur ertappt und von Mal zu Mal gezwungen werden, sich zurückzuziehen. Dahin, für immer dahin ist die schöne freie Entsprechung der Gefühle mit den Vorgängen. Auch das wäre, recht bedacht, ein Grund zur Trauer.
    Zu Nellys großem Staunen und Schrecken kamen Leute aus der Tür der abgebrannten Synagoge. Es konnte also der untere Raum, in dem die Juden sicherlich, wie in anderen Kirchen üblich, eine Art Altar hatten, nicht vollkommen ausgebrannt oder durch herunterstürzendes Mauerwerk verschüttet und zerstört sein. Man kann also in rauchende Trümmerhaufen unter Umständen noch hineingehen – alles vollkommen neu für Nelly.
    Gäbe es diese Leute nicht – ein inneres Bild, dessen Authentizität unleugbar ist –, würdest du nicht mit dieser Sicherheit behaupten können, daß Nelly, ein Kind mit Phantasie, an jenem Nachmittag bei der Synagoge war. Aber Gestalten wie diese, die da schnell, doch nicht hastig die zwanzig Schritte von der Tür der Synagoge zu dem genau gegenüberliegenden kleinen Fachwerkhaus liefen – vier oder fünf Männer mit langen Bärten, schwarzen Käppis auf dem Kopf und schwarzen, langen Mänteln –, solche Menschen hatte Nelly weder auf Bildern noch in Wirklichkeit je gesehen. Sie wußte auch nicht, was ein Rabbiner ist. Die Sonne bekam zu tun. Sie fiel auf die Geräte, die jene Männer in den Händentrugen (»retteten«, dachte Nelly unwillkürlich). Eine Art von Kelch muß dabeigewesen sein – ob das möglich ist? Gold!
    Die Juden, in Nellys Erinnerung beinlos wegen ihrer langen Kaftane, gingen unter Lebensgefahr in ihre zerstörte Synagoge und holten ihre heiligen goldenen Schätze heraus. Die Juden, alte Männer mit grauen Bärten, wohnten in den kleinen armseligen Häuschen am Synagogenplatz. Ihre Frauen und Kinder saßen vielleicht hinter den winzigen Fensterchen und weinten. (Blut, Blut, Bluhuhut, Blut muß fließen knüppelhageldick ...) Die Juden sind anders als wir. Sie sind unheimlich. Vor den Juden muß man Angst haben, wenn man sie schon nicht hassen kann. Wenn die Juden jetzt stark wären, müßten sie uns alle umbringen.
    Um ein Haar wäre Nelly eine unpassende Empfindung unterlaufen: Mitgefühl. Aber der gesunde deutsche Menschenverstand baute seine Barriere dagegen, als Angst. (Vielleicht sollte wenigstens angedeutet werden, welche Schwierigkeiten ein Mensch in Sachen »Mitgefühl« haben muß – auch, was das Mitgefühl mit sich selbst betrifft –, der als Kind gezwungen wurde, Mitgefühl mit Schwachen und Unterlegenen in Haß, in Angst umzumünzen; dies nur, um auf Spätfolgen früher Geschehnisse hinzuweisen, die man zu Unrecht oft nur in der zwar zutreffenden, doch nicht erschöpfenden Rechnung zusammenfaßt: 177 brennende Synagogen im Jahre 1938 ergeben ungezählte Ruinenstädte im Jahre 1945.)
    Nelly war es peinlich, an ihrem Platz stehenzubleiben. Charlotte hatte ihr beigebracht, was Takt ist: allermeist das, was man nicht tut. Man starrt einem Hungrigennicht beim Essen auf den Mund. Einem Kahlen redet man nicht von seiner Glatze. Tante Liesbeth teilt man nicht mit, daß sie nicht backen kann. Man stellt sich nicht hin und weidet sich an fremdem Unglück.
    Nelly hat die fremden bärtigen Juden unter die Unglücklichen eingereiht.
    Jetzt also der Rohrsesselbrand. Ob er vor oder nach dem 9. November stattgefunden hat, ist nicht feststellbar. Bruder Lutz hat keine Erinnerung an dieses Ereignis aufbewahrt. Er hat die Zeit seines Lebens, in der er wegen heftiger Anfälle von Jähzorn für ein bockiges Kind galt, total vergessen. Vielleicht rechtfertigt ein Wort, das Wort »angekohlt«, wenigstens

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