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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Beispiel, insbesondere abends – und daß sie wenig schlief, fünf, sechs Wochen lang, bis jene abschließende Aussprache im Haus der Gestapo stattgefunden hatte, wo ihr mitgeteilt wurde: Man lasse die Angelegenheit auf sich beruhen, da die anderen beiden Zeuginnen die fragliche Äußerung nicht gehört haben wollten und der Leumund der Frau Jordan bisher untadelig sei. – Leo Siegmann, des Vaters alter Freund mit dem Goldenen Parteiabzeichen, hatte »alle Minen springen lassen«.
    Vermuteter Dialog zwischen Bruno und Charlotte Jordan am Abend dieses Tages. Bruno: Nun sei um Gottes willen vorsichtig, kannst von Glück sagen.
    Charlotte: Glück? – Sie hatte eine herausfordernde Art, Wörter, an denen sie zweifelte, zu wiederholen. Ich danke für Backobst. Aber fest steht: Lieber beiß ich mir jetzt die Zunge ab ...
    Dann war es ja gut.
    Dabei war die beanstandete Äußerung sehr maßvoll im Vergleich mit jener anderen, mit der sie den Krieg begann. Die nämlich lautete: Ich scheiß auf euern Führer!
    Die Szene hat man sich folgendermaßen vorzustellen: Handlungszeit ist der späte Abend des 25. August 1939, Handlungsort: Jordans spärlich beleuchtetes Treppenhaus. Die Personen sind: ein Briefträger; Bruno Jordan,dem Briefträger gegenüberstehend; Nelly, wie immer in solchen Fällen stumm, in der Wohnungstür; auf halber Treppe Charlotte, und höher, über das Geländer gebeugt, Schnäuzchen-Oma.
    Warum sagt sie euern? dachte Nelly. Euern Führer?
    Während Bruno Jordan seine Frau am Oberarm packte, wahrscheinlich mit einem »festen Griff«, und zwei Sätze sagte. Den einen zu Charlotte: Mädel! Du redest uns um Kopf und Kragen! Den zweiten zum Briefträger: Das müssen Sie nicht so genau nehmen. Meine Frau ist nervös.
    Worauf der abwinkte und ging.
    Ein authentischer Vorgang, der der Deutung bedarf.
    Charlotte vermied streng und verbot auch ihren Kindern den Gebrauch fäkalischer Schimpfwörter. Sie sagte »Ferkel«, aber niemals »Schwein«. Sagte »Dummkopf«, doch nicht »Idiot«. Nicht überliefert ist, ob sie abends, wenn die Kinder schliefen und die Eheleute Jordan unter der Wohnzimmerlampe die Zeitung lasen, dem Führer still bei sich oder halblaut ihrem Mann gegenüber womöglich eine Stufenleiter immer gewagterer Worte beigelegt hat; denkbar wäre, daß sie an jenem Abend gleich die für sie höchste Steigerungsstufe erreichte, die später, nach Kriegsende, allerdings durch den Titel »verfluchter Verbrecher« überboten wurde.
    Der Abend hatte alle Steigerungsstufen in sich. Es war ja der siebte Geburtstag von Bruder Lutz, eine heitere Feier im Familienkreis hatte stattgefunden, am Abend hatten die Onkel ihre Frauen und Kinder abgeholt, die schon am Nachmittag um den Kaffeetisch gesessen, Schnäuzchen-Oma für den Streuselkuchen gelobt und einander Freundliches gesagt hatten: Nacheiner Zeit unerquicklicher Mißverständnisse zwischen den Verwandten schien man sich endlich versöhnen zu wollen. Tante Liesbeth lobt die kunstvoll gesteckte Frisur von Tante Lucie, diese kann sich nicht genug wundern, wie sich Klein Manfred (Vetter Manni, das Siebenmonatskind) in jüngster Zeit herausgemacht hat. Und nach dem Abendbrot erheben sich alle drei Schwäger – Bruno Jordan, Walter Menzel, Alfons Radde –, um miteinander anzustoßen, und zwar, was naheliegt, auf das Gedeihen ihrer Familien. Nelly, schweigsam, aber empfindlich für Schwingungen, empfindet Erleichterung, vielleicht »Entzücken«, Schnäuzchen-Oma wischt sich die Augen mit dem Schürzenzipfel. Jedermann hat das Gefühl, daß man auf der Welt ist, um ein derart friedvolles und gelassenes Leben miteinander zu führen. Verschämt wird irgendwo der Satz geäußert: Na seht ihr, so geht es auch! – Und ob! sagt Bruno Jordan.
    So trennt man sich denn. Jordans legen sich Kissen ins Fenster, um den Abend ausklingen zu lassen. Jetzt keine großen Worte. Am liebsten überhaupt keine Worte. Am liebsten bloß Stille und Abendfrieden.
    Da kommt einer, sagte Charlotte. Eine schwarze Gestalt in der Dunkelheit auf der menschenleeren Straße. Komisch, wie der in alle Häuser geht. (In alle nicht, aber in viele, denn es wurden gleich mehrere Jahrgänge »mobil«gemacht.) Was klopft der denn überall? Sieht beinah aus wie ein Briefträger. Du, das ist auch einer. Was will der denn, mitten in der Nacht? Du, weißt du, was ich glaube, was der bringt?
    Schwarzsehen, immer bloß schwarzsehen. Anstatt erst mal Ruhe zu bewahren. Anstatt erst mal abzuwarten, ob er auch

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