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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zu uns kommt. Dann ist ja immer nochZeit, ein Wort wie »Gestellungsbefehl« auszusprechen. Dann ist es vielleicht immer noch zu früh, von Krieg zu reden. Aber nein. Charlotte muß es gleich loswerden, alles auf einmal: Du! Der bringt Gestellungsbefehle! Du! Es gibt Krieg!
    Dann, wie gelähmt, dem Mann mit Blicken folgen, wie er jetzt die Bahrschen Häuser abklappert, wie Lichter in einigen Wohnungen angehen, wie er schließlich akkurat im rechten Winkel die Soldiner Straße kreuzt, ohne zu zögern, auf ihren Treppenaufgang zusteuert – da löst Charlotte sich vom Fenster und rennt zu Schnäuzchen-Oma hoch, um sie von dem bevorstehenden Ereignis zu unterrichten –, Schritt für Schritt, da er ja müde ist, die Treppe heraufkommt, an der Haustür nicht zu klingeln braucht, weil Bruno Jordan ihm schon öffnet, und das schmutziggelbe Kuvert hinreicht: Ich hätte da was für Sie.
    Bruno, gefaßt: Ist es also wieder mal soweit.
    Der Briefträger, müde: Ja. Soll wohl so sein.
    Und danach von halber Treppe her Charlottes Ausruf: Ich scheiß auf euern Führer!
    Die Mutter läßt also den Führer im Stich. Der Vater muß in den Krieg. Krieg ist das Allerschlimmste. Der Vater kann »fallen«. Der Führer weiß, was er tut. Jetzt muß jeder Deutsche tapfer sein.
    Der Gestellungsbefehl lautet auf den nächsten Vormittag, neun Uhr. Treffpunkt: Adlergarten. An einem solchen Tag bleiben die Kinder der Schule »fern«. »Ich bitte, das Fernbleiben meiner Tochter von der Schule zu entschuldigen. Sie hat ihren Vater, der eingezogen wurde, an den Bahnhof begleitet.« – Leicht veränderter Text einer Traueranzeige, wenn man für »eingezogen« »abberufen«,für »Bahnhof« »auf seinem letzten Weg begleitet« setzen würde. Und Nelly konnte nicht umhin – das Erbteil ihrer Mutter, schwarzzusehen, war nicht zu unterdrücken –, sich wie auf einem letzten Weg zu fühlen. O wär er zur Ruhuh und ahalles vorbei ...
    Keine Tränen, das nicht.
    Heinersdorf-Opa kam mit dem Fahrrad, um sich von seinem Sohn zu verabschieden. Ja, brauchen die denn Veteranen? Bruno Jordan war zweiundvierzig. Im Adlergarten wird erst mal gewartet. Fast die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens. Gartenstühle und -tische stehen zur Verfügung. Bierausschank ist natürlich verboten. Mehr Zivilisten als künftige Soldaten, die sich durch den verschnürten Persil-Karton verraten, den sie herumtragen oder vor die Füße stellen. Das Kommando »Antreten!«, jedem vertraut, fährt ihnen doch anders in die Knochen als sonst. Der Vater, tadellos ausgerichtet, im zweiten Glied. Verlesung einer Namensliste. Kommandos, welche die Kolonne in Bewegung setzen, in Richtung Bahnhof, ein kurzes Stück.
    Ein Lied! »Die Vöglein im Walde, die singen so wunderwunderschön, in der Heimat, in der Heimat ...« Singen konnte der Vater nie.
    Die Familien, Frauen und Kinder, auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten der Marschkolonne. Ecke Bahnhofstraße dreht Bruno Jordan sich um. Die Geste, die er mit der Hand macht, soll heißen: Bleibt jetzt zurück. Charlotte gehorcht wider Erwarten. Sie bleibt stehen und bricht in Schluchzen aus. Der Vater hat das Gesicht der Männer, die sich das Weinen verbeißen müssen. Auf dem Rückweg – Charlotte weint, wenn die Katastrophe in ihrer Familie zuschlägt, immer laut in aller Öffentlichkeit,Nelly muß daher die Zähne zusammenbeißen, sie zieht den Bruder hinter sich her –, genau vor dem Milchladen, tut Heinersdorf-Opa einen erstaunlichen Ausspruch: Euern Vater seht ihr nicht mehr wieder, meine Tochter. Denk an meine Worte.
    Prophezeiungen sind Heinersdorf-Opas Sache sonst nicht. Nelly, die des Vaters letzten Satz im Ohr hat: Steh der Mutter bei!, muß nun auch des Großvaters Satz noch in sich aufbewahren und verschließen. Manchmal schienen sich solche Sätze zu häufen. Wo käme sie hin, wenn sie mit ihnen fahrlässig umginge?
    Die Mutter aber, Kassandra, fährt den Vater ihres Mannes heftig an. Wie kannst du so was sagen!
    Zu denken, daß an jenem Montag vor vierunddreißig Jahren einer hinter seiner Schreibmaschine gesessen haben mag – einer, der jetzt vielleicht tot ist, von dem du nicht mal den Namen kennst –, irgendwo in der Welt, und, mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt, kopfschüttelnd die Nachricht von einer Mobilmachung in Deutschland gehört hat. Kein Gedanke an ein zehnjähriges Kind oder einen verzweifelten alten Mann. Und daß jetzt du dieser Jemand bist, im Verhältnis zu den Kindern in Israel und

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