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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Ägypten, die gestern ihre Väter zu den Sammelplätzen geleiteten (wir haben Sonntag, den 7. Oktober 1973) und denen ein alter Mann – vielleicht hat er das Nazi-KZ überlebt; vielleicht ist er Fellache und kann weder lesen noch schreiben – in hebräisch oder arabisch sagt, daß sie darauf gefaßt sein müssen, ihren Vater nicht wiederzusehen. Und daß du an deiner Schreibmaschine sitzen bleibst, mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt, während am Suezkanal »die Kämpfe mit unverminderter Heftigkeit andauern«.
    Dieser fatale Hang der Geschichte zu Wiederholungen, gegen den man sich wappnen muß.
    In dieser Nacht bist du zwischen zwei und drei Uhr aufgefahren. Die Gewohnheit, täglich ein Stück Text auf weiße Seiten zu schreiben, war in Frage gestellt.
    Du warst, im Traum, in einem weitläufigen ländlichen Haus, einer Art Gasthaus, in dem es von Menschen wimmelte: bärtige, weißgesichtige Männer in wilder Aufmachung, die du alle nicht kanntest, von denen du aber angesprochen wurdest, so als wäret ihr alle zu einem gemeinsamen Zweck hier zusammengekommen, über den man nicht weiter reden mußte. Zu deiner Überraschung fandest du in einem weißgekalkten, übrigens recht primitiven Zimmer, in das du dich zurückzogst, einen kleinen, mißgestalteten Mann vor – er hatte einen eiförmigen Oberschädel –, der aber auf deine Bitte hin sofort ging. Allerdings wurde er Minuten später auf gräßliche Art wieder hereingeschleudert, durch die zersplitternde Tür durch, kopfunter an einer schaukelartigen Strick-Vorrichtung hängend, die von Folterknechten hin und her geschwungen wurde, wobei sie den kleinen Mann schlugen und brüllend bestimmte Auskünfte von ihm verlangten. Da sahst du zu deinem unbeschreiblichen Entsetzen: Dieser Mann konnte nicht sprechen, er hatte keinen Mund. Seine untere Gesichtshälfte, die bei jedem zweiten Schaukelschwung dicht vor dir hochschwang, war glatt und weiß und stumm: Er konnte seinen Folterern nicht zu Willen sein, selbst wenn er es gewollt hätte. Verzweifelt dachtest du – und verleugnetest den Gedanken sofort vor dir selbst –, schreiben müßten sie ihn lassen, um etwas von ihm zu erfahren. Im gleichen Augenblick bandendie Folterer ihn los, setzten ihn auf dein Bett und gaben ihm einen Bleistift und schmale weiße Papierstreifen, auf denen er seine Antworten niederschreiben sollte. Die arme Kreatur stieß Laute aus, daß dir das Blut in den Adern erstarrte. Das schlimmste aber war, du verstandest ihn: Er wisse nichts. – Sie fuhren fort, ihn auf deinem Bett zu foltern.
    Das Entsetzen hielt Stunden nach dem widerwilligen Erwachen an. Es konzentrierte sich auf den Augenblick, da du vorausdachtest, was die Folterer tun müßten, um ans Ziel zu kommen: den Stummen schreiben lassen. Und daß du gelähmt, festgelegt auf die Beobachterrolle, daneben standest und nicht vortreten konntest, um dem Gepeinigten beizuspringen.
    Du gäbest etwas darum, den Traum vergessen zu können. In einem deutschen Konzentrationslager gab es einen SS-Mann namens Bogner, der ein Folterinstrument erfand, das dann nach ihm »Bogner-Schaukel« benannt wurde. Es war wohl zu erwarten, daß die Schreibarbeit das Unterste nach oben bringen würde. Es geht wohl über die Kraft eines Menschen, heute zu leben und nicht mitschuldig zu werden. Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, sagt ein berühmter Italiener, seien sich selbst und einander gram, weil sie ihre Fähigkeit bewiesen haben, unter Diktaturen zu leben. Aber wo beginnt die verfluchte Pflicht des Aufschreibers – der, ob er will oder nicht, Beobachter ist, sonst schriebe er nicht, sondern kämpfte oder stürbe –, und wo endet sein verfluchtes Recht?
    Wo sind die Zeiten, da die raunenden Beschwörer des Imperfekts sich und andere glauben machen konnten, sie seien es, die die Gerechtigkeit verteilten. O überdiese Zeit, da der Schreibende, ehe er zur Beschreibung fremder Wunden übergehen darf, die Wunde seines eigenen Unrechts vorweisen muß.
    Falls es sich bewahrheitet hätte, daß das letzte Manuskript des toten Pablo Neruda geraubt worden wäre, wäre nichts und niemand auf der Welt imstande gewesen, den Verlust zu ersetzen. So daß plötzlich das Recht, auch an einem Tag wie diesem ein leeres weißes Blatt mit Schriftzeilen zu füllen, zu einer Pflicht wird, die jeden anderen Imperativ übertrifft.
    Auch wenn Gegenstände noch einmal zur Sprache gebracht werden müssen, über die alles gesagt zu sein scheint und über die die Reihen der

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