Kindswut
angekommen, wo in einem saalartigen Durchgangszimmer mit vielen Türen, die ausgehängt waren, die Musik spielte. Das Zimmer war voll. Wir hatten darin keinen Platz mehr. Wir blieben davor stehen und reckten uns auf die Zehenspitzen. Der Sohn von Frau Stadl schnallte sich gerade sein Akkordeon um. Die Zuschauer pfiffen auf den Fingern. Andere Musiker nahmen ihre Instrumente: Gitarre, Saxophon, Posaune, Kontrabass, Schlagzeug.
»Kennst du ihn?« Ich zeigte auf den Sohn von Frau Stadl. Lea zögerte mit der Antwort. »Nicht wirklich. Er kommt, spielt Akkordeon wie ein Wahnsinniger, du wirst es gleich hören, dann geht er wieder oder er sitzt nur da und sagt nichts. Ich habe ihn noch nie sprechen gehört. Diese Maske trägt er immer. Als wäre sie sein zweites Gesicht. Dabei ist sie so böse und gemein. Durch ihn kamen wir auf die Idee mit den Tiermasken, obwohl seine so aggressiv ist. Wirklich kennen tut ihn hier niemand.«
»Kennst du seinen Namen?«
»Nein. Ich glaube, er braucht gar keinen. Wir haben ihn gefragt. Er antwortet nicht.« Ich hätte gerne noch von ihr gewusst, warum sie das glaubte, dass er keinen Namen bräuchte. Jeder Mensch brauchte einen Namen. Aber dann begann die Musik. Alles war plötzlich mucksmäuschenstill. Der Sohn von Frau Stadl spielte furios. Er spielte einen Tango mit ungeheurer Kraft und Wucht und Leichtigkeit. Es war ein Ausbruch überwältigender Gefühle. Dazu fletschte die Maske des Pitbulls mit den Zähnen. Das Publikum tobte, als der Sohn der Frau Stadl fertig war. Warum trug er diese Maske? Was bedeutete das Bettlager auf dem Balkon? Warum saß er in diesem Krustenschrank? Was brach sich Bahn aus seinem Innersten, wenn er sein Akkordeon spielte, wie ich es noch nie spielen gehört hatte?
»Du musst ganz bestimmt wiederkommen«, bettelte Lea, als ich ging.
»Ganz bestimmt.« Ich hoffte, dass ich diesmal Wort halten würde. Meiner selbst sicher war ich nicht. Ich mied Verabredungen, weil ich wusste, dass ich sie doch nicht einhalten würde.
Das wurde noch ein langer Abend. Ich lief zu Fuß vom Ludwig-Kirch-Platz bis zum Stutti. Die Cognac- und die Calvadosflasche hingen schwer in den Jackentaschen. Ich genehmigte mir jeweils ein paar Schlückchen. Ich war mir nicht mehr sicher, ob das wirklich der Schatten von Frau Stadl gewesen war, den ich auf der Trauerparty der Frau Maibaum gesehen hatte. Sie war auf Reisen. Warum sollte sie mir eine Lügengeschichte auftischen? Es war ohnehin alles sehr seltsam. Der Sohn im Schrank mit der Pitbull-Maske, deren Original im Schlafzimmer der Mutter hing, das Bettlager auf der Terrasse. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Dabei konnten mir auch der Calvados und der Cognac nicht helfen. Ich bekam Hunger.
Ich kehrte noch in den ›Lentz‹ am Stutti ein. Es gab Eintopf. Mir war danach. Im ›Dollinger‹ nebenan gab es keinen Eintopf. Sonst wäre ich gleich dahin gegangen. Zu dem Eintopf passten ein paar kleine Gläser Landrotwein. Ich wusste nicht mehr genau, wann Willy ins ›Lentz‹ kam. Ich war ihm sehr dankbar, dass er sofort meinen Tisch ansteuerte. Denn mit ihm hatte Maria das Lokal betreten. Sie äugte im ›Lentz‹ umher, zu wem sie sich gesellen konnte. Sie hatte mich im Visier. Willy kam ihr zuvor. Maria war Psychologin, immer in einen langen schwarzen Ledermantel gekleidet und stets auf der Suche nach Opfern, die sie aussaugen konnte. »Ich sehe es dir doch an, dass du ein Problem hast.« Mit diesem Spruch fing sie sich ihre Opfer ein. Sie war darin sehr geschickt. Sie beobachtete die Anwesenden, bis sie etwas entdeckte. Einen depressiven Zug um den Mund, eine zu hektische Geste, oder jemand, der sonst nie trank, trank plötzlich zu viel. Dann pirschte sie sich an die bemitleidenswerte Person heran. Sie wusste im Umkreis vom Stutti über jeden alles. Sie war eine wandelnde Personenkartei. Ihr langes schwarzes Haar mit Stirnfransen verschattete ihr sehr bleiches Gesicht. Ihre Augen waren immer leicht entzündet und daher rot umrändert. Ihr Mund war dunkellila geschminkt. Sie lachte nie. Bestimmt hatte sie lange Eckzähne, die niemand sehen durfte. Ich nannte sie den Vampir vom Stutti. Einmal lief sie nachts bei Vollmond an mir vorbei. Ihr langer schwarzer Mantel wehte im Wind. Die Blätter der Bäume am Stutti rauschten. Jeden Moment hebt sie ab wie eine Fledermaus, dachte ich. Mich hatte sie auch ausgesaugt, vor Jahren. Ich hatte einen Durchhänger gehabt, den sie sofort erspähte. Sie wusste viel über mich. Gott sei
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