Kindswut
schön. Ich war kaum noch einen Meter von der ersten Stufe entfernt. Das Knurren, Fauchen, Zischen und Jaulen wurde bedrohlich, steigerte sich in ein aggressives Stakkato. Die Oberkörper schwangen in dem immer heftiger, schneller werdenden Rhythmus auf und ab, hin und her, schlugen aus in alle Richtungen wie wild zuckende Kompassnadeln. Die Menge erhob sich, stampfte ekstatisch im Takt mit den Füßen, das Tempo stetig steigernd. Am Treppengeländer in den oberen Stockwerken tauchten einzelne, ebenfalls geschminkte Gesichter auf, die nach und nach immer mehr wurden. Stöcke, Löffel, Topfdeckel und andere Gegenstände schlugen auf das hölzerne Treppengeländer im Rhythmus der kreischenden Tierstimmen und stampfenden Füße. Die schwere Holztreppe dröhnte wie ein gewaltiger Resonanzboden. Der Kronleuchter erlosch. Es herrschte eine fahle Dunkelheit. Nur spärlich kam Licht durch die Oberfenster der Doppelflügelhaustüre. Das Stampfen und Tierkreischen raste. Bald tasteten sich einzelne Taschenlampenstrahlen durch die Dunkelheit. Feuerzeuge und Streichhölzer wurden angezündet. Ich wähnte mich in einem rasenden Hexensabbat, der mich zu verschlingen drohte. Einzelne Tiermasken waren in Leuchtfarben gemalt. Sie stoben im Irrwitz. Ich verlor vollständig die Orientierung in diesem Wirbel aus Masken und tanzenden Körpern, die in dem flackernden Licht wilde Schatten warfen und kaum mehr zu unterscheiden waren. Sie verschmolzen zu einem einzigen zuckenden, vielgliedrigen Leib. Dieses Brodeln kam auf mich zu, umringte mich. Dann stand ich plötzlich in völliger Finsternis. Ich registrierte einen Schlag auf meinen Schädel. Man hatte mir etwas übergestülpt. Ich verspürte Panik und betastete meinen Kopf. Ich befühlte eine lange Schnauze, spitze Hörner auf dem Kopf, lange Ohren. Eine Zunge hing schlaff aus dem Maul. Der Kronleuchter wurde wieder eingeschaltet. Ich riss mir den übergestülpten Tierschädel vom Kopf. Es war der mit schwarzem Fell überzogene Kopf eines Stieres und sah ziemlich lebensecht aus. Die eben noch stampfenden und kreischenden Tiermasken standen wieder relaxed, locker, cool, als wäre nichts gewesen, auf der Treppe, fast schon etwas gelangweilt und blasiert, tranken aus ihren Bierflaschen und rauchten. Kein Blick wurde mir gegönnt. Als gäbe es mich nicht. Der wilde Urwaldstamm hatte sich rückverwandelt in junge, zivilisierte Menschen, die ohne ersichtlichen Grund friedfertig und eher teilnahmslos Tiermasken in grellen Farben zur Schau trugen.
Eine Gestalt stand regungslos auf der Treppe und schaute zu mir herüber. Es war die Maske des Pitbulls, die mich anstarrte. Die ›Revolutionäre Familie‹: ›Ich‹, der Sohn von Frau Stadl. Ich ging auf ihn zu. Er verschwand. Ich folgte ihm.
Auf halber Treppe wurde ich aufgehalten. »Fritz!« Eine Vogelmaske fiel mir um den Hals. »Dass man dich hier sieht!« Die Vogelmaske pickte mir mit dem Schnabel ins Gesicht. Es waren Küsse. Ich war verdutzt. »Ich bin’s! Lea!« Mein Gott! Ich hatte sie nicht erkannt! Die kleine, süße Lea! Barbara Vogelweide und ich hatten Lea und ihren Bruder Thomas vor zwei Jahren in einem Flüchtlingslager im Saarland kennengelernt und nach Berlin geholt. Barbara hatte beide adoptiert. Thomas lebte illegal in Deutschland. Er hatte angeblich im Saarland eine Tankstelle überfallen. Der Überfall konnte ihm nicht nachgewiesen werden. In Berlin hatte er einem Polizisten aus dem Dienstfahrzeug die Dienstpistole gestohlen. Er wurde auf Bewährung verurteilt. Er galt als schwer traumatisiert, was ihn vor dem Gefängnis bewahrte. Die Adoption verhinderte die sofortige Abschiebung. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Wir wollten gemeinsam in das geerbte Haus einziehen. Ich hatte mich aus dem Staub gemacht und nichts mehr von mir hören lassen. Ich wollte keine Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit war für mich Grenzüberschreitung.
»Wohnst du hier?«
»Ja, Thomas auch. Aber er ist meistens unterwegs. Du kennst ihn ja.«
»Was ist das für eine Veranstaltung hier?« Ich zeigte auf die Maskierten.
»Jeder hat sich das Tier ausgesucht, das er gerne wäre. In der Hoffnung, dass es den Klimawandel überlebt. Wie wir alle es hoffen zu überleben. Auch für uns. Euer Haus ist ein Aktionshaus geworden. Hier ist immer was los.« Sie lachte. Wir waren im Gespräch die Treppe hochgestiegen. »Fritz, du musst jetzt wirklich mal kommen. Barbara würde sich sehr freuen. Thomas sowieso, das weißt du doch!«
Wir waren im zweiten Stockwerk
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