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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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vergessen. In meiner eigenen Wohnung konnte ich nicht ausschlafen. Auf keinen Fall. Da raste sehr früh der Meißel eines Presslufthammers und bohrte sich mir ins schlafende Hirn. Oh Graus! Ich steuerte die Wohnung von Frau Stadl im Vorderhaus an und fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock. Auf diesem Stockwerk gab es drei Wohnungen. Ich wusste nicht mehr, welche Wohnungstüre die richtige war. Merkwürdigerweise gab es keine Namensschilder. Welche Türe war nun die der Frau Stadl? Ich holte den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche und versuchte es mit der mittleren Türe. Der Schlüssel passte nicht auf Anhieb. Ich fummelte herum und versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu kriegen. Es ging nicht. Ich wollte gerade zur nächsten Türe wechseln, um mein Glück zu probieren, als die vor mir aufging. Ein großer Kerl im Bademantel stand da.
    »Sie sind es schon wieder, Sie Arschloch!«, rief er wutentbrannt, verpasste mir einen Fausthieb auf die Kinnspitze, der mich von den Füßen holte, und warf die Tür ins Schloss. Ich rappelte mich mühsam hoch. Wieso schon wieder? Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen. Ich überlegte, ob ich klingeln und die Sache klären sollte. So oder so. Mein Kinn schmerzte heftig, als ich daran rieb. Ich vertagte die Klärung. Im nächsten Schloss passte der Schlüssel. Ich stand eine ganze Weile vor der offenen Türe, ohne die Wohnung zu betreten, und sinnierte. Wieso war ich es schon wieder? Das Licht ging mehrmals aus. Ich drückte den Lichtknopf jedes Mal neu. Dieser Satz ließ mir keine Ruhe. Wieso war ich es schon wieder?
    Ich holte einen Kaugummi aus meiner Jackentasche, packte ihn aus, stopfte ihn in meinen Mund und begann, bedächtig zu kauen. Dann drehte ich mich um, ging zurück zu der mittleren Türe, klebte den Kaugummi auf die Klingel, die, davon gehalten, penetrant läutete. Ich ging schnell in die Wohnung von Frau Stadl und schloss die Türe, hinter der ich lauschend stehen blieb. Es dauerte nicht lange und der Kerl riss die Türe auf. Ich sah alles ganz genau durch den Spion. Der Mann war auf 180. Er schaute wild um sich. Da war aber niemand! Es klingelte unbarmherzig. Einen nicht zu weich durchgekauten Kaugummi von einem Klingelknopf zu lösen ist eklig. Man durfte ihn nur ankauen. Er durfte nicht zu weich werden. Es kam wirklich auf die Härte des Kaugummis an, damit der Klingelknopf niedergedrückt blieb. Diesmal passte es. Der Kerl fluchte wie ein Fuhrknecht und pulte den Kaugummi von der Klingel. Es war mühsam. Gleich platzt er, dachte ich. Kichernd wie ein altes Waschweib stand ich hinter der Türe. Ein vielstimmiges Froschgequake setzte ein, als stünde ich an einem Froschteich. Das konnte nur Philip, der Tierimitator, sein. Das Gequake kam von der Terrasse. Es war Vollmond. Philip lag auf seinem Militärbett, mit einer Decke bedeckt, und quakte lauthals vor sich hin. Eine vielstimmig quakende Pitbull-Maske hatte etwas durchaus Bizarres. Ich konnte Enten imitieren, wenn sie nach dem Gründeln wieder mit dem Kopf nach oben kamen und den Schlamm aus ihrem Schnabel schüttelten. Ich stellte mich neben das Bett, »quak quak«, tauchte ein, indem ich den Oberkörper tief nach unten beugte, gründelte, indem ich den Kopf heftig auf und nieder bewegte, als rührte ich im Schlamm nach Schnecken, kam wieder nach oben und schüttelte den Entenschnabel, indem ich die Backen mit den Fingern in schnellem Rhythmus erst anzog und dann auf die Zähne klatschte. Die Spucke schlabberte. Das Geräusch war perfekt. Ich bildete mir ein, dass ich eine Menge Frösche fing. Das Froschgequake wurde schwächer. Zwischendurch trank ich aus der Cognacflasche. Schließlich quakte nur noch ein einzelner Frosch. Es klang melancholisch. Dich kriege ich auch noch, dachte ich und tauchte ab. Ein schauriger Froschchor stimmte ein. Es mussten Ochsenfrösche sein, die ihre Membranen blähten. Wir hatten jedenfalls viel Spaß. Ich wusste nicht mehr, wie ich ins Bett gekommen war, als ich am nächsten Morgen angezogen auf dem Bett der Frau Stadl aufwachte. Die Cognacflasche in der Jackentasche drückte. Sie war leer. Es war kurz nach neun. Ich musste mich beeilen, um rechtzeitig zur Beerdigung zu kommen. Ich warf noch einen raschen Blick auf die Terrasse. Philip lag in eine Wolldecke eingewickelt auf der Militärliege. Neben ihm auf dem Boden lag die Zeichnung von Martha. Ich musste sie ihm gezeigt haben. Daran erinnern konnte ich mich nicht mehr. Ich nahm sie vom Boden auf und rollte sie

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