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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Korintherbriefen herunter. »Amen.« Er schlug die Bibel wieder zu, legte sie zurück auf den Altar und schaute mit anderthalb Augen, ein Augenlid hing halb herunter, es hatte eine Schwäche, fragend in die Runde. Eine Orgel setzte ein. Die Pedale stampften laut, als bearbeitete sie ein Gaul mit dem Huf. Die Pfeifen jaulten. Eine von ihnen war defekt und machte nur »pfft«. Es klang wie ein allerletzter Seufzer. »Du bist ein Grenzgänger, Fritz«, hatte mir Maria schon mehrmals gesagt. »Normale Menschen und Situationen erträgst du gar nicht.« Sie sagte das, als wäre sie die Einzige, die ich ertragen konnte.
    Die Frau neben mir drehte mit der Geschwindigkeit eines Eichhörnchens Zigaretten einhändig auf Vorrat. Ich fragte sie, ob sie den Vornamen von Herrn Maibaum wüsste.
    »Karl.«
    »Wie alt?«
    »80.«
    »Gestorben woran?«
    »Überdruss.«
    »Wie lernten Sie ihn kennen?«
    »Im Altersheim.« Mitteilungsfreudig war sie nicht. »Liegt er wirklich da vorne im Sarg?« Sie schaute mich verblüfft an, kicherte dann. »Ich würde es ihm gönnen.«
    »Was?«
    »Woanders zu liegen.« Die Orgel verstummte.
    »Sind Sie zum ersten Mal hier?«
    »Nein. Wirklich nicht.« Sie lachte auf. Leichte Unruhe entstand. Das Programm stockte. Die Frau neben mir stieß mich in die Seite. »Walten Sie Ihres Amtes.«
    Ich kam nicht sehr weit. Es waren höchstens drei Schritte, die ich auf den Sarg zugegangen war. In meinem Kopf hatte ich einen Wattebausch und ich konnte nicht klar denken. Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt in dieser Leichenhalle war. Und wenn, höchstens ein unbedeutender Teil von mir. Ich selbst war an einem ganz anderen Ort. Aber wie kam dieser wenn auch unbedeutende Teil meiner selbst hierher? Ich erlebte das nicht zum ersten Mal und stellte mir die gleiche Frage immer wieder, wenn ich überwiegend dort war, in geringen Teilen aber auch hier. Wie kommst du überhaupt hierher, wenn du ganz woanders bist?
    Ich hatte nicht viel Zeit, über diese Frage, die ich nie beantworten konnte, nachzugrübeln. Die Türe hinter mir wurde aufgestoßen, kräftige Hände packten mich rechts und links an den Armen, und ich wurde im Geschwindschritt aus dem Gebäude geschleift. Meine Füße schlackerten über den Boden. Es ging in einem Hui, ich landete in einem geräumigen Kofferraum und der Kofferraumdeckel wurde, ohne dass ich auch nur das Geringste begreifen oder erkennen konnte, über mir zugeklappt. Als Letztes und Einziges sah ich den Himmel über mir. Dann wurde es stockfinster. Ich begriff nichts, außer, dass ich in einem Kofferraum lag. Das wiederum war wie nirgendwo sein.
    Das Auto fuhr an. Ich überlegte fieberhaft, was und wer mich in diese unerquickliche Situation gebracht haben könnte. Ich fand keine halbwegs befriedigende Erklärung. Es hatte etwas mit dieser vermaledeiten Beerdigung zu tun. Oder woher wussten die Entführer, dass ich auf dieser Beerdigung war, zumal Ludwig die Grabrede halten sollte, und nicht ich, der Ersatzmann? Hatten die beiden Süßen mich etwa mit Bedacht in diese missliche Lage gebracht? Ich würde mit ihnen ein ernstes Wörtchen reden müssen. Dafür müsste ich diesen Kofferraum aber erst einmal verlassen. Ich dachte an Frau Stadl, die mir die Fresse polieren und den abgerissenen Schwanz in den Arsch stecken wollte. Deren Sohn in einem Schrank oder auf der Terrasse hauste. Oder in ihrem Bett. Manche Mütter liebten es, ihre Söhne zum Kuscheln ins Bett zu holen. Söhne als Sperrriegel gegen den Vater. › Sorry, schon besetzt! ‹ Mancher Sohn hatte gar kein eigenes Bett. › Stell dir mal vor, wir kuscheln, und da kriegt der eine Erektion! ‹ Jede Beteiligung an der Erektion wies die Mutter entrüstet zurück.
    In dem Kofferraum hörte ich Musik von Radio Multikulti. Vielleicht waren es Araber oder Terroristen, die mich entführt hatten?, assoziierte ich. Oder alles war ein Ulk? Ein Scherz? › Spaß muss auch sein! ‹ Ich tastete nach einem Streichholzheftchen, das ich immer bei mir hatte als Zahnstocherersatz. Man musste die schmalen Streichhölzer nur halbieren und sie passten in jede Zahnlücke. Sie waren viel besser als richtige Zahnstocher, weil sie vorne flach waren und nicht zugespitzt. Sie schoben den Zahnlückenmüll vor sich her hinaus ins Freie wie ein breiter Schneeschieber. Ich fand das Heftchen, riss ein Streichholz ab und entzündete es. Ergiebig war der Kofferraum nicht. Ich fand einen Verbandskasten und einen Wagenheber mit Kurbel. Ob ich damit den

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