Kindswut
konnte nie herausfinden, was an mir fehlerhaft war. Die Fehler hafteten mir an wie unsichtbare Makel, die da waren, und mal nicht, und die zu entdecken allein meiner Mutter oblag. Ich hatte keine Gewalt über sie. Meine Mutter wurde wütend, wenn ich auf das › Bist du wieder brav? ‹ nicht antwortete. Sie donnerte mit den Fäusten gegen die Schranktüren. Es wummerte mächtig. Manchmal vergaß sie mich und ich wurde erst am nächsten Morgen aus dem Schrank entlassen, fast betäubt vom Duft der Mottenkugeln. Ich wankte durch das Haus wie ein Betrunkener, und beim Treppensteigen musste ich mich am Geländer festhalten. Ich schaute auf die Welt durch die Schlüssellöcher des Schrankes wie durch Guckröhren, Ferngläser, bewehrt mit spitzen Zacken, die mir den Zugang zur Welt verwehrten. Panzersperren meiner kleinen Seele. Vor dem Schrank wurde meine Mutter vom Priester gefickt, der in der Basilika gegenüber predigte und sehr schön Orgel spielen konnte. Meine Mutter schrie, er grunzte und hüstelte. Die lang gezogenen Hüstler steigerten sich, als raspelte ihm eine Feile über den Kehlkopf. Bisweilen auch legte sich meine Mutter über einen niedrigen, massiven Holztisch, der gegenüber dem Schrank an der Wand stand. Der Priester zog ihr den Rock über den nackten Po, den er mit dem Teppichklopfer oder der flachen Hand bearbeitete. Meine Mutter schien in Trance zu geraten. Ihr Gesichtsausdruck war entrückt. Sie stöhnte im Rhythmus der Schläge. Was hatte das mit VERNUNFT zu tun? Da war keine. Ich fühlte mich grenzenlos und gleichzeitig in einen engen Schrank eingesperrt, zwischen den Pelzen, die mich an der Nase und den Wangen kitzelten. Ich war unfreiwilliger Voyeur. Wie auf der Durchreise in meinem Weltraumschiff. Sie wusste, dass ich im Schrank saß. Sie selbst hatte mich eingewiesen in den Schrank. Es geilte die fickende Mutter auf, den Sohn im Schrank zu wissen, für sie unsichtbar hinter den dicken Schranktüren, aber präsent mit dem Blick durchs Schlüsselloch. Einmal hatte sie sogar hineingelugt, wir waren Aug in Aug. Ich schreckte verwirrt zurück, wie ein ertappter Dieb. Am liebsten hätte ich dieses fickende Paar für immer aus der Welt geschafft. Sie mit einer Lanze durchbohren! Ihnen die Gurgeln durchschneiden mit einem langen Messer, die Köpfe aufhacken mit einem Beil! Die Hirnmassen verspritzen, sie aufschlitzen wie Schweine bei der Schlachtung! Und dabei schreien, schreien, das blutige Fleisch wegschreien, für immer! Das waren meine sehr konkreten Schrankfantasien, die ich hatte. Ich verkroch mich dabei völlig in mich selbst, rollte mich in mir ein, als wäre ich mein eigener Embryo, der sich selbst austrug. Mutter und Kind in einem. VERNUNFT.
Philip, ein Schrankhocker, wie ich einer war. Was tickte in seiner Fantasie, im Krustenschrank sitzend, beim Anblick gefesselter Männer, die von der androgynen Frau Körner gepeitscht wurden? Was wurde ihm alles vorgeführt? Dem Lustknaben wider Willen? Am Kronleuchter aufgeknüpfte alte Männer? Welche Schikanen musste er durch seine tobende, ihn demütigende Mutter ertragen? Ich wusste es nicht. Philip war eine tickende Zeitbombe. Wahrscheinlich hatte er die Grenze von Fantasie und Wirklichkeit längst überschritten. Ich selbst war kurz davor gewesen. Ich schliff das Ausbeinmesser meiner Mutter am runden Schleifstein, den man mit dem Fuß über ein Tretbrett in Drehung bringen konnte. Es war ein Erbstück. In mir war die Ruhe, die ich mein Leben lang vermisst hatte. Die Tat war beschlossene Sache. Hinübergehen in die Basilika und dem Priester vor der anwesenden Gemeinde den Bauch aufschlitzen, dann den meiner Mutter. Sie saß immer in der ersten Reihe, andächtig zum Gebet, der Rosenkranz glitt durch ihre Finger, die Perlen klackerten ganz leise.
Ein Kunde, der einen Pelz abholen wollte und mich beim Schleifen des Messers störte, meine Mutter war Kürschnerin, brachte mich in die Welt zurück.
»Junge, schneid’ dich nicht«, sagte er. Ich ließ das Messer fallen, als hätte ich mich bereits geschnitten.
»Ich brauchte Geld.« Marthas Stimme klang merkwürdig dumpf, als säße sie in einem Putzeimer aus Zinkblech. Ihr Kinn lag immer noch auf ihrer Brust. Sie konnte die Lippen beim Sprechen daher kaum bewegen. Barbara saß ganz dicht vor ihr.
»Schauen Sie mich doch an.« Martha reagierte nicht. Barbara gab ihr einen kleinen Klaps auf den Oberarm.
»Wir sind doch ganz unter uns.«
Ludwig lauerte immer noch mit vorgestrecktem Kopf. Sein Hals
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