Kindswut
war es nicht. Mein Arm war es, der nicht mein Arm ist. Was sagst du dazu?«
Barbara sah sich die Zeichnung lange an. »Das ist ja Philip. Beide sind es. Einer wie der andere. Merkwürdig. Fritz, du hast mich überzeugt. Wir müssen zu Martha und Ludwig gehen.« Wir liefen zu Fuß bis zur Sybelstraße. Es war eine milde Nacht. Wolken zogen wie zarte Schleier über die schmale Sichel des Mondes, ohne sich zu verhaken. Ich hatte völlig die Zeitorientierung verloren. »Zeitlose Zeiten.«
»Was sagst du?«
»Wie spät ist es?«
»Elf Uhr vorbei.«
»Dann sind sie noch wach.« Wir überquerten die Lewishamstraße. Es war starker Verkehr. Die Reifen rauschten. Eine U-Bahn ratterte vorbei. Das Licht unter der Betonbrücke, über die die Gleise führten, war intensiv orangefarben.
»Glaubst du wirklich, dass es Philip ist, der dich anruft?« Ich verstand sie kaum. Das Rauschen der Autoreifen war so stark. Die Scheinwerfer blendeten.
»Ja.«
»Ich kann es mir nicht vorstellen. Wir haben ihn mehrmals untersucht. Neurologisch, alles. Vor sechs Jahren das erste Mal. Da war er noch ein Kind. Kein Kind kann sich so verstellen. Er ist kein Simulant. Das halte ich für ausgeschlossen.« Sie schrie ihre Worte fast in das Rauschen des Verkehrs.
»Aber die Kiekser sind eindeutig!«, schrie ich zurück. »Das kann reiner Zufall sein!« Vorbeigehende Passanten drehten sich bei dem Geschrei nach uns um.
»Kann es nicht!«
Die Ampel schaltete auf Grün. Ein Pärchen machte schon Anstalten, uns anzusprechen. Wahrscheinlich wähnten sie Barbara, durch mich bedrängt, in Not. Wir überquerten die Lewishamstraße. Mein Handy läutete. Ich hob ab.
»Hier Stadl.«
»Moment bitte.« Ich hielt die Hand auf das Handy. »Die Stadl«, zischelte ich Barbara zu und stellte den Lautsprecher ein. »So, jetzt bin ich für Sie da.«
»Mein lieber Herr Neuhaus, können Sie mir verzeihen? Es ist alles so furchtbar. Die arme Frau Körner. Tot in der Spree. Ich verlor die Nerven. Fiel mir selbst aus der Fassung. Beleidigte Sie. Es war eher ein Hilfeschrei. Aber vorher schon war ich daneben. Mein armer Philip! Wie geht es ihm? Wie geht es ihm? Ich bin eine Rabenmutter. Ich vernachlässige ihn, meinen armen Schatz. Mein kleiner Schrankhocker. Lebt im Terrassenexil. Oh weh, oh weh. Was habe ich angerichtet? Als Kind war er ein richtiges Plappermäulchen. Dann verstummte er. Riss Fliegen die Beine aus. Drehte einem Kanarienvögelchen den Hals um! Warf einen Hamster lebendig in einen Schnellkochtopf und kochte ihn! Grüßen Sie ihn von mir. Ich komme bald wieder. Alles wird gut. Ach ja, das Tranchiermesser! Oh weh, oh weh! Die arme Frau Körner! Erdolcht! Wer macht denn so was? Besorgen Sie sich Eierschoner, mein lieber Fritz Neuhaus! Die nächste Eiszeit kommt bestimmt.« Sie hängte ein.
Barbara und ich schauten uns an. »Was war denn das?«
»Fritz, keine Ahnung. Es war die Stimme der Frau Stadl. Alles andere war sehr befremdlich.«
»Wie konnte sie etwas von dem Tranchiermesser und Frau Körner wissen?«
Barbara blieb stehen. »Fritz, sie konnte es nicht wissen! Vor ein paar Stunden gab es keine Analyse, nichts!«
»Sie wusste es aber!«
»Offensichtlich. Das ist ja das Gespenstische.«
»Philip konnte es gewusst haben. Er spielte mir einen Mord vor. In seiner Küche fand ich das Tranchiermesser.«
»Könnte sein. Aber das war gerade Frau Stadl.« Barbara wirkte in ihrer sturen Beharrlichkeit fast drollig.
»Nie im Leben!«
»Wer denn sonst?«
»Du kennst meine Theorie. Sie heißt Philip.«
Wir waren vor dem Haus von Martha und Ludwig angelangt und läuteten. Es war gegen halb zwölf. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden. Die Ränder der Wolke schimmerten silbrig. »Was wollen wir eigentlich von denen wissen?«
»Warum hat Martha diese Zeichnungen gemacht? Welche Botschaft steckt dahinter?« Der Summer ertönte. Wir drückten die Türe auf. Die sechs Stockwerke waren für mich nur mühsam zu erklimmen, es fühlte sich an, als hätte ich Blei in den Beinen. Barbara hüpfte die Treppen hoch wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Es war ein Déjà-vu-Erlebnis. Martha stand wieder in der Türe, im Bademantel und mit feuchten Haaren. »Was wollt ihr denn?« Ihr Ton war mürrisch. Sie musterte Barbara. »Und wer ist das?«
»Martha, das ist Barbara, Barbara, das ist Martha. Wir wollen mit dir reden.«
»Wir haben doch erst geredet.«
»Es geht um Mord. Du steckst mit drin.« Das wirkte. Sie riss die Augen und den Mund auf. Sie
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