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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Ich haute ihm auf die Schulter. Die war sehr knochig. »Du solltest mal Fleisch ansetzen.« Er verstand nicht. »Wie? Was?«
    »Fleisch!«
    »Fleisch?«
    »Und hör auf, den Doofen zu markieren. Du willst nicht gewusst haben, was Martha bei der Stadl trieb?«
    »Ja, ich will nicht.« Er kam nicht runter von der Doofennummer.
    »Wieso habt ihr euch mit der Stadl verkracht?«
    »Stadl?«
    »Hat mir Willy gesteckt.«
    Ludwig schaute in sein leeres Weinglas, als stünde auf dessen Grunde Willy und winke ihm zu. Martha nestelte wieder an ihrem Bademantel herum. Ich wandte mich ihr zu. »Man zieht nicht einfach mal so einen älteren Herrn an einem Galgen hoch, bis er tot ist.« Martha rang die Hände. »Du hast dieser Frau Körner assistiert. Die wurde ermordet. Zwei Tote auf deiner Rechnung! Da wird doch jeder Polizist neugierig.«
    Martha schnappte nach Luft, Ludwig wollte wieder mit seiner Wipperei loslegen. Ich legte ihm die Hand auf die Knochenschulter. »I-I-I-I«, quiekte er und wollte sich in diesem Gequieke dauerhaft einrichten, gewissermaßen einen Störsender etablieren. Ich schaute ihn streng an.
    »Ludwig!« Das Gequieke verstummte. Mich überfiel urplötzlich eine tiefe Sehnsucht nach Normalität. Auch die kühle Barbara wirkte genervt von den beiden. Ich haute mit der Faust auf den Tisch und brüllte. »Wie also war das mit der Stadl, die ihr angeblich nicht kennt?« Nach diesem Ausbruch ging es mir besser. Ich musste grinsen. Barbara verstand und grinste zurück. Ludwig und Martha hatten sich erschreckt weggeduckt wie unter Schlägen. Das Weinglas war von dem Faustschlag umgekippt und rollte auf die Tischkante zu. Der Tisch war schief. Wir schauten gebannt auf das Glas. Keiner hielt es auf. Es rollte über die Tischkante und zerschellte neben Ludwig auf dem Boden. Er wollte runter auf die Scherben schauen, als ihm Martha eine schallende Ohrfeige verpasste. Die Ohrfeige kam überraschend.
    »Warum tust du so, als wüsstest du von nichts? Du warst doch dabei!« Sie verpasste ihm noch eine und hatte plötzlich hektische rote Flecken im Gesicht. Ludwig produzierte wieder sein »I-I-I-I« und wippte in einem irren Tempo auf und ab, die Hände flach auf den Tisch gelegt. Dabei ventilierte er ungeheuerlich, als wäre in seine Brust ein Blasebalg eingebaut, der ihn übermäßig mit Luft versorgte. Die heftig ein- und ausströmende Luft pfiff und rasselte in den Bronchien. Es schnarrte und surrte. Es war die reinste Irrennummer. Barbara stand auf und schaute sich in der Küche um. Sie fand unter der Spüle eine Plastiktüte, die sie Ludwig über den Kopf stülpte. Die Plastiktüte bildete über dem Mund eine Kuhle und dann wieder eine Wölbung, je nachdem, ob die Luft ein- oder ausgeatmet wurde. Dann versiegte der Atem. Der Mund gierte nach Luft. Die Plastiktüte drängte sich tief in den nach Luft gierenden Schlund. Martha riss Ludwig die Tüte vom Kopf. Der atmete mehrmals sehr tief durch. Er entkrampfte sich und war wieder ruhig. »Danke«, sagte er.
    Wir saßen eine Weile ganz stumm da. Es war die Ruhe nach dem Sturm. Es fehlte nur noch der monoton tropfende Wasserhahn oder das Summen einer einsam um die Deckenlampe kreisenden Stubenfliege. Wir hörten uns atmen. Ich dachte an ein einbeiniges Huhn, das morgens um sechs rechts aus dem Gebüsch gekommen war, über das taufrische Gras hüpfte, bisweilen stehen blieb, mit dem Kopf ruckte, zu mir spähte, um dann die einbeinige Hüpferei auf dem verbliebenen gelben Bein fortzusetzen. Es gackerte kein einziges Mal bei dieser Mühsal. Es verschwand zwischen hohen Stockrosen. Ein paar Minuten vorher hatten mich Freunde verlassen. Sie waren fröhlich beim Abschied. »Komm doch mit!«, riefen sie. Ich tat es nicht. Ich wäre gerne mitgefahren. Unter ihnen war eine wunderschöne Frau. Hinreißend ihr Gang. Funkelnde schwarze Augen und ein Mund wie nie. Sie winkte, bis sie mich nicht mehr sah.
    Endlich sprach Martha. »Der Unfall passierte in dem Zimmer, in dem der riesige Schrank steht. Im Schrank saß der Sohn von Frau Stadl. In diesem merkwürdigen Beichtstuhl. Ich war schockiert. Er verließ den Schrank. Da bemerkte ich ihn erst. Er trug diese Maske und krächzte wie ein Rabe. Dieses lang gezogene Krah-Krah, wie Raben es tun, wenn sie im Winter in Schwärmen über einen vereisten Acker fliegen, der im Herbst erst umgepflügt wurde, sodass die Ackerschollen schwarze Klumpen im Schnee bilden. Er verließ die Wohnung. Mit diesem Krächzen und mit ausgestreckten Armen, die

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