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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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traurig aus der brodelnden Brühe, über der der Dampf tanzend waberte wie Fahnen auf Halbmast. Meine Großmutter rührte die kochende Wäsche im beheizbaren Wäschetrog über der Glut. Ich sah sie mit nackten Armen voller Brandblasen den Löffel immer wieder in dieses kochende und spritzende Knäuel aus langen Unterhosen und Hemden eintauchen. Wer war der Nächste in diesem Reigen, der von Philip gar gekocht werden sollte? Wer alles in Berlin sollte noch trinken aus dem Höllenzuber?
    Philip wusste, dass ich zu der Veranstaltung von Fricke ging. Er hatte mir die Unterlagen über Fricke zugespielt. Wer sonst? Ich war der Hausierer mit dem Bauchladen voller böser Hiobsbotschaften, der von einer Hausnummer zur nächsten zog. Ich arbeitete Philips Liste ab. Er folgte mir auf dieser Chaosspur. Ich war sein Bote. Er war der Henker. Er kämpfte. Ich wollte ihn nicht hindern. Unsere Wege würden sich kreuzen. Da war ich mir sicher. Das Ende hielt ich für offen.
    Mitternacht war vorbei. Ich wollte trotzdem noch zur Staatssekretärin. Ich wartete nicht mehr auf Barbara. Ich wollte sie heraushalten. Es war eine Sache zwischen Philip und mir. Ich wollte, dass er diesen Teufelsritt halbwegs unbeschadet überstand. Ich war selbst ein Schrankhocker gewesen. Kein Schutz, nirgends. Ich hatte nicht die geringste Idee, wie ich das anstellen sollte. ›Heil‹ war er längst nicht mehr. Er war fast noch ein Kind. Ich hatte Erbarmen mit seiner geschändeten Seele. Ich winkte in die Nacht, vielleicht sah er es, irgendwo zwischen den Bäumen am Stutti, und machte mich auf den Weg. Der Himmel war klar. Die Sterne funkelten. Schade, dass es keine Nachtwächter mehr mit Hellebarde gab, die ins Horn zum Angriff bliesen, sodass es weithin erschallte. Die Bürger schreckten auf. › Hört, ihr Bürger, lasst euch sagen  …‹ Angriff! Mir nach! Zieht blank! Stecht sie nieder! Die Feinde eurer jungen Seelen! › Fritz, du bist rettungslos romantisch‹, klackerte Maria bisweilen mit ihren spitzen Fingernägeln auf die Tischplatte im ›Lentz‹. Ihre Ringe schellten und rasselten Tschingderrassassa. Einen resignierten Seufzer konnte sie dabei nicht verhehlen.

Kapitel 9
    Die Staatssekretärin hieß Vera Kalb. In mir erwachte ein gewisses Jagdfieber, das mir einen fröhlichen Schwung verlieh, trotz der vorgerückten Stunde, und ich freute mich schon auf das Gesicht der Staatssekretärin, wenn ich ihr die Listen unter die Nase hielt. Ihre Adresse war erstklassig. Sie wohnte in der Schlüterstraße, Ecke Mommsenstraße. Es war eine Schickimicki-Gegend. Die Kneipen, Restaurants und Bistros waren immer noch voll. Mein Handy läutete. Das war bestimmt Barbara. Ich zögerte, abzuheben. Was sollte ich ihr sagen?
    »Ich will allein zur Kalb.« Sie würde mir gewaltig aufs Dach steigen. Die Nummer auf dem Display war nicht von ihr. Ich wunderte mich ein bisschen, dass sie sich nicht schon längst gemeldet hatte. Oder dass die Kommissarin nicht anrief. Die war doch bestimmt scharf auf die Unterlagen. Wer sonst sollte sie haben, wenn nicht ich? Das Handy läutete immer noch. Ich hob ab. Es war Philip mit der Stimme seiner Mutter.
    »Fritz Neuhaus, mach sie satt. Reiß ihr die Arschbacken auseinander. Ich gehe jede Wette mit dir ein: Sie will dich ficken. Ich habe sie eben angerufen. Sie weiß, dass du kommst. Sie weiß auch, warum du kommst. Sie ist ganz heiß auf dich. Vera, habe ich ihr gesagt, streng dich an. Sonst gibt es furchtbare Haue. Hach, die kriegst du sowieso. Hach, ich weiß, dass du es kannst, Vera, ich durfte deine Zuschauerin sein, du kleines, geiles Fickmamsellchen. Viel Spaß, mein lieber Fritz. Gleich bist du da. Nur noch ein paar Meter.« Er lachte affektiert wie eine Tucke und legte auf. Ich hatte keinen Zweifel, dass er sie von meinem Kommen unterrichtet hatte. Er musste ganz in meiner Nähe sein.
    Sie ließ sich Zeit. Ich läutete mehrmals. Vielleicht stand sie an ihrem Schreibtisch, hielt sich eine Pistole in den Mund und schnaufte. Oder sie sprang vom Balkon und klatschte neben mir auf, die Glieder grotesk verrenkt, ein letzter Blick traf mich, dann verlosch er. Sie sagte aber noch: › Nevertheless. ‹ Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet ›Nevertheless‹ sagen sollte. Sie könnte auch › Fuck you ‹ sagen. Das wäre angebrachter gewesen. Der Summer ertönte. Ich drückte die Türe auf. Ich betrat ein weites Foyer, der Boden war mit weiß-schwarzen Marmorplatten ausgelegt, ein lebensgroßes Bronzepferd setzte zum Sprung

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