Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
süß aussah, aber kaum wie eine Frau mit hochgestecktem Lebensziel.
»Wie steht’s mit ihrem früheren Freund? Haben Sie eine Ahnung, wo er jetzt ist?«
»Was, Lyle? Ach, der wird bald auftauchen.«
»Hier?«
»Meine Güte, ja. Er kommt jeden Tag gegen Mittag vorbei, um mir mit Raymond zu helfen. Es ist ein reizender Junge, aber Sie werden natürlich auch wissen, daß sie ihre Verlobung mit ihm gelöst hat, ein paar Monate, bevor sie... von uns ging. Sie war schon mit Lyle zusammen auf der High-School, und sie besuchten gemeinsam das Santa Monica College, bis Lyle ausstieg.«
»Fing er damals an, bei Wunder-Brot zu arbeiten?«
»Oh, nein, Lyle hat schon viele Jobs gehabt. Zu der Zeit, als Lyle von der Schule abging, hatte Elizabeth ihre eigene Wohnung, und sie vertraute mir nicht viel an, aber ich glaube, daß sie enttäuscht von ihm war. Er hatte Anwalt werden wollen und sich’s dann einfach anders überlegt. Er meinte, Jura sei zu trocken und er halte nichts von Federfuchserei.«
»Lebten sie zusammen?«
Graces Wangen röteten sich leicht. »Nein. Es klingt vielleicht merkwürdig, und Raymond fand es sehr verkehrt von mir, aber ich redete ihnen zu, sie sollten zusammenziehen. Ich spürte, daß sie sich auseinanderlebten, und ich dachte, es würde helfen. Raymond war, genau wie Elizabeth, wegen des Schulabbruchs von Lyle enttäuscht. Er sagte ihr, sie könne viel bessere bekommen. Aber Lyle vergötterte sie. Ich dachte, das zählt doch auch etwas. Er würde sich schon finden. Er hatte ein rastloses Wesen, wie viele Jungen in dem Alter. Er würde schon zur Besinnung kommen, und das sagte ich ihr auch. Er mußte Verantwortung lernen. Da hätte sie ein sehr guter Einfluß sein können, weil sie selbst so verantwortungsvoll war. Aber Elizabeth sagte, sie wolle nicht mit ihm leben, und damit hatte es sich. Sie konnte starken Willens sein, wenn es ihr darauf ankam. Und das meine ich nicht als Kritik. Sie war fast vollkommen als Tochter. Selbstverständlich war ihr Wunsch auch mein Wunsch, aber ich konnte es nicht ertragen, daß Lyle darunter litt. Er ist sehr lieb. Sie werden es sehen, wenn Sie ihn kennenlernen.«
»Und Sie haben keine Ahnung, was letztlich den Bruch zwischen ihnen herbeigeführt hat? Ich meine, könnte sie sich mit jemand anderem eingelassen haben?«
»Sie reden von diesem Anwalt in Santa Teresa«, sagte sie.
»Seinen Tod untersuche ich«, erklärte ich. »Hat sie jemals mit Ihnen über ihn gesprochen?«
»Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört, bis die Polizei von Santa Teresa herkam und mit uns redete. Elizabeth vertraute sich in persönlichen Dingen nicht gern an, aber ich glaube nicht, daß sie sich in einen verheirateten Mann verlieben würde«, sagte Grace. Nervös hantierte sie mit der Seide herum. Sie schloß die Augen und preßte die Hand auf ihre Stirn, wie um zu prüfen, ob sie sich ein plötzliches Fieber zugezogen hätte. »Entschuldigen Sie. Manchmal vergesse ich’s. Manchmal tu ich, als wäre sie krank geworden. Die andere Sache macht mich fertig — daß jemand ihr das angetan haben könnte, daß jemand sie derart gehaßt haben soll. Die Polizei hier tut gar nichts. Es ist ungeklärt, aber niemand kümmert sich mehr drum, deshalb sag ich... ich sag mir einfach, sie ist krank geworden und heimgegangen. Wie hätte ihr das irgend jemand antun können?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Kummer überwand den Raum zwischen uns wie eine Meereswelle, und ich spürte auch in meinen Augen Tränen aufsteigen. Ich langte herüber und ergriff ihre Hand. Einen Moment lang umklammerte sie fest meine Finger, dann schien sie sich zu fassen und löste sich von mir.
»Es hat mir wie eine Last aufs Herz gedrückt. Ich werde mich nie davon erholen. Nie.«
Meine nächste Frage formulierte ich behutsam. »Könnte es ein Unfall gewesen sein?« sagte ich. »Der andere Tote — Laurence Fife — starb an Oleander, den jemand in eine Allergiekapsel getan hat. Angenommen, sie hatten geschäftlich miteinander zu tun, Bücher durchzugehen oder so etwas. Vielleicht mußte sie niesen oder hat sich über eine verstopfte Nase beklagt, und er hat ihr eben sein eigenes Medikament angeboten. Das tun die Leute ja ständig.«
Sie dachte einen Augenblick unbehaglich darüber nach. »Ich dachte, die Polizei hätte gesagt, daß der Anwalt vor ihr starb. Tage vorher.«
»Vielleicht hat sie das Präparat nicht sofort eingenommen«, sagte ich achselzuckend. »Genau wissen kann man nie, wann jemand so
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