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Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Titel: Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Schritt zulief.
    Er ging an seine Arbeit, ignorierte mich vollkommen, sprach aber, während er zugange war, mit Grace. Sie reichte ihm ein Handtuch, das er unter Raymonds Kinn klemmte, und dann begann er ihn einzuseifen und mit einer Sicherheitsklinge zu rasieren, die er in einer Edelstahlschüssel abspülte. Grace holte unterdessen Flaschenbier heraus, entfernte die Kronen und goß das Bier in Tulpengläser, die sie an unsere Plätze stellte. Für Raymond war nicht mitgedeckt. Als die Rasur beendet war, bürstete Lyle Raymonds schütteres weißes Haar und fütterte ihn anschließend aus einem Glas mit Babynahrung. Grace warf mir einen zufriedenen Blick zu: Sehen Sie, was für ein Schatz er ist? Lyle erinnerte mich an einen älteren Bruder, der sich um einen kleinen Taps kümmert, damit Mama ihn brav findet. Das tat sie. Sie beobachtete voller Wohlwollen, wie Lyle mit dem Löffelrand über das Kinn von Raymond schabte und den verschlabberten Gemüsebrei wieder in Raymonds schlaffen Mund einführte. Noch während ich zusah, breitete sich ein Fleck vorne auf Raymonds Hose aus.
    »Nimm’s nicht schwer, Paps«, säuselte Lyle. »Nach dem Essen machen wir dich sauber. Was hältst du davon?«
    Ich spürte, daß mein Gesicht vor Widerwillen starr wurde.
    Am Mittagstisch beeilte Lyle sich mit dem Essen, sagte keinen Ton zu mir und sehr wenig zu Grace.
    »Was tun Sie, Lyle?« fragte ich.
    »Mauern.«
    Ich sah auf seine Hände. Seine Finger waren lang und staubig von grauem Mörtel, der in die Ritzen seiner Haut gedrungen war. Bis zu mir hin konnte ich Schweiß riechen, überlagert von einem leichten Marihuanageruch. Ich fragte mich, ob Grace das überhaupt bemerkte oder ob sie womöglich dachte, es sei irgendein exotisches Rasierwasser.
    »Ich muß sehen, daß ich schnell nach Vegas komme«, sagte ich zu Grace, »aber ich schaue gerne auf dem Rückweg nach Santa Teresa noch mal vorbei. Haben Sie noch Sachen von Libby?« Ich war mir da verhältnismäßig sicher.
    Grace befragte Lyle mit einem raschen Blick, aber seine Augen waren auf den Teller gerichtet. »Ich glaube schon. Da sind doch einige Kisten im Keller, nicht wahr, Lyle? Elizabeths Bücher und Papiere?«
    Der alte Mann stieß bei der Erwähnung ihres Namens einen Laut aus, und Lyle wischte sich den Mund und schmiß die Serviette hin, als er aufstand. Er rollte Raymond den Flur hinunter.
    »Entschuldigen Sie. Ich hätte Libby nicht erwähnen sollen«, sagte ich.
    »Das ist schon in Ordnung«, erwiderte sie. »Wenn Sie sich noch mal melden oder auf der Rücktour über Los Angeles vorbeikommen wollen, können Sie sich Elizabeths Habseligkeiten ruhig einmal ansehen. Viel ist es nicht.«
    »Lyle scheint nicht sehr guter Laune zu sein«, bemerkte ich. »Ich hoffe, er hält mich nicht für aufdringlich.«
    »Aber nein. Er tut sich schwer mit Leuten, die er nicht kennt«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen sollte. Für mich ist Raymond ja zu schwer. Ich habe eine Nachbarin, die jeden Tag zweimal vorbeikommt und mir hilft, ihn aus dem Stuhl zu holen und wieder reinzusetzen. Sein Rückgrat ist bei dem Unfall zerschmettert worden.«
    Ihr Plauderton machte mich verrückt. »Darf ich mal das Bad benutzen?« sagte ich.
    »Es ist den Flur hinunter. Die zweite Tür rechts.«
    Als ich am Schlafzimmer vorbeiging, konnte ich sehen, daß Lyle Raymond bereits ins Bett gehoben hatte. Zwei Holzstühle waren gegen die Seite des Doppelbetts gerückt, um zu verhindern, daß er herausfiel. Lyle stand zwischen den beiden Stühlen und wischte Raymonds nackten Hintern ab. Ich ging ins Bad und schloß die Tür.
    Ich half Grace den Tisch abräumen und verabschiedete mich dann, wartete aber auf der anderen Straßenseite in meinem Wagen. Ich versteckte mich nicht und traf keine Anstalten, davonzufahren. Lyles Kleinlaster stand noch in der Einfahrt. Ich blickte auf meine Uhr. Es war jetzt zehn vor eins, und ich schätzte, daß er begrenzte Mittagszeiten hatte. Tatsächlich, die Seitentür ging auf und Lyle trat auf die schmale Schwelle, wo er eine Pause einlegte, um seine Stiefel zu schnüren. Er warf einen Blick zur Straße, entdeckte mein Auto und schien vor sich hinzulächeln. Arsch, dachte ich. Er stieg in den Kleinlaster und setzte rückwärts mit hohem Tempo aus der Einfahrt. Einen Augenblick fragte ich mich, ob er beabsichtigte, schnurstracks über die Straße zu setzen, um mir in die Seite zu knallen und mich zu zerquetschen. Er schwenkte aber in letzter Sekunde herum,

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