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Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Titel: Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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aus uninteressiert zuschaute. Ich fand, sie sollte sich mal mit ihrem Hähnchenpartner beraten, aber der stand da bloß befangen wie ein Kind, das weiß, daß es zu alt ist, um sich an Haloween zu verkleiden.
    Das Schnittmuster raschelte, als Grace es wegnahm und es sorgfältig zusammenfaltete, bevor sie es beiseite legte.
    »Für Elizabeth habe ich auch genäht, als sie jung war«, sagte sie. »Sobald sie von zu Hause wegging, wollte sie natürlich nur noch Ladenware. Sechzig Dollar für einen Rock, an dem höchstens für zwölf Dollar Wolle war, aber sie hatte einen Blick für Farben, und sie konnte sich das leisten, was ihr gefiel. Möchten , Sie ein Foto von ihr sehen?« Graces Augen schweiften zu meinen herauf, und ihr Lächeln war wehmütig.
    »Ja. Das würde ich gern.«
    Sie nahm erst noch die Seide, legte sie auf das Bügelbrett und prüfte im Vorübergehen das Eisen mit einem nassen Zeigefinger. | Das Bügeleisen zischte, und sie stellte den Schalter auf »Wolle« 1 herunter. Auf der Fensterbank standen zwei Schnappschüsse von Libby in einem Doppelrahmen, und sie betrachtete sie selber noch, bevor sie sie mir gab. Auf dem ersten schaute Libby in die Kamera, aber sie hatte den Kopf geneigt und die rechte Hand erhoben, als wollte sie ihr Gesicht verbergen. Ihr blondes Haar war sonnengestreift, kurz geschnitten wie das der Mutter, jedoch über die Ohren zurückgefönt. Die blauen Augen belustigt, ihr Grinsen war breit und verlegen vor Überraschung. Warum, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hatte noch nie eine Vierundzwanzigjährige gesehen, die so jung und so frisch wirkte. Auf dem zweiten Schnappschuß deutete das Lächeln sich nur an, geteilte Lippen über blitzend weißen Zähnen, ein Grübchen am Mundwinkel. Ihr Teint war hell, goldbraun getönt, die Wimpern dunkel, so daß sie die Augen zart betonten.
    »Sie ist reizend«, sagte ich. »Wirklich.«
    Grace stand am Bügelbrett und glättete Seidenfalten mit der Spitze des Eisens, das über die Asbestplatte segelte wie ein Boot auf einem flachen, dunkelgrünen Meer. Sie schaltete das Eisen aus und strich sich mit den Händen kurz über den Rock, dann nahm sie die Seidenteile und begann sie zusammenzustecken.
    »Ich habe sie nach Queen Elizabeth genannt«, sagte sie und lachte scheu. »Sie wurde am 14. November geboren, am selben Tag wie Prinz Charles. Ich hätte sie Charles genannt, wenn sie ein Junge geworden wäre. Raymond fand zwar, ich sei albern, aber das war mir egal.«
    »Sie haben sie nie Libby gerufen?«
    »Aber nein. Das brachte sie selbst auf, in der Grundschule. Sie hatte immer so eine Vorstellung davon, wer sie war und wie ihr Leben sein sollte. Schon als Kind. Sie war sehr ordentlich, nicht pingelig, aber sauber. Sie hat ihre Kommodenschubladen mit hübschem Blumenpapier ausgelegt, und genauso hat sie auch alles andere geordnet. Buchhaltung gefiel ihr aus dem gleichen Grund. Mathematik war ordentlich und hatte Hand und Fuß. Die Antworten stimmten immer, wenn man mit genügend Sorgfalt vorging: wenigstens sagte sie das mal.« Grace ging hinüber zum Schaukelstuhl, setzte sich und breitete die Seide über ihren Schoß. Sie begann Abnäher zu heften.
    »Ich hörte, daß sie als Prüferin bei Haycraft und McNiece gearbeitet hat. Wie lange war sie dort?«
    »Etwa eineinhalb Jahre. Sie hatte schon die Bücher für den Betrieb ihres Vaters geführt — er reparierte Haushaltsgeräte — , aber das interessierte sie eigentlich nicht, die Arbeit für ihn. Sie war ehrgeizig. Sie machte das Wirtschaftsprüferexamen, als sie zweiundzwanzig war. Danach belegte sie noch Computerkurse an der Abendschule. Ihre Zeugnisse waren sehr gut. Sie hatte schon zwei jüngere Buchhalter unter sich, wissen Sie.«
    »War sie glücklich dort?«
    »Das war sie bestimmt«, sagte Grace. »Sie sprach auch mal davon, noch Jura zu studieren. Sie hatte Spaß an Betriebswirtschaft und an Finanzen. Sie ging gern mit Zahlen um, und ich weiß, daß sie beeindruckt war, weil diese Firma sehr reiche Leute vertrat. Sie sagte, man könne sehr viel über den Charakter eines Menschen lernen aus der Art, wie er sein Geld ausgibt, was er kauft und wo — ob er im Rahmen seiner Verhältnisse lebt und dergleichen mehr. Sie sagte, es sei ein Studium der menschlichen Natur.« Graces Stimme war von Stolz getränkt. Mir fiel es schwer, die Vorstellung von dieser affektiert klingenden Wirtschaftsprüferin mit dem Mädchen auf den Fotos zu vereinbaren, das hübsch, lebendig, scheu und ziemlich

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