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Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Titel: Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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eine vertauschte Kapsel einnimmt. Vielleicht steckte sie sie in ihre Handtasche und schluckte sie später, ohne auch nur zu ahnen, daß eine Gefahr dabei war. War sie allergisch? Könnte es sein, daß sie sich erkältet hatte?«
    Grace fing an zu weinen, ein leiser Laut wie ein Miauen. »Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube nicht. Sie hatte keinen Heuschnupfen oder so etwas. Ich wüßte auch nicht, wer sich nach all den Jahren noch daran erinnern sollte.«
    Grace sah mich jetzt mit ihren großen, dunklen Augen an. Sie hatte ein gutes Gesicht, beinah kindlich, mit einer kleinen Nase, einem süßen Mund. Sie nahm ein Kleenex heraus und trocknete sich die Wangen. »Ich glaube, länger kann ich darüber nicht mehr reden. Bleiben Sie zu Mittag. Lernen Sie Lyle kennen. Vielleicht kann er Ihnen etwas sagen, das Sie weiterbringt.«

10

    Ich saß auf einem Hocker in der Küche und sah zu, wie Grace Thunfischsalat zu Mittag machte. Sie hatte sich gleichsam geschüttelt, als wäre sie aus einem kurzen, aber sehr notwendigen Nickerchen erwacht, und dann hatte sie ihre Schürze umgebunden und den Rest ihrer Nähutensilien von dem Tisch im Eßzimmer geräumt. Sie war eine sorgfältig arbeitende Frau, ruhig in ihren Bewegungen, als sie die Sets und Servietten hervorholte. Ich deckte den Tisch für sie und kam mir wieder ganz als artiges Kind vor, während sie Kopfsalat wusch, ihn trockenklopfte und auf jeden Teller ein Salatblatt legte wie ein Deckchen. Sie schälte säuberlich dünne Streifen von mehreren Tomaten ab und rollte sie wie Rosen auf. Für jeden Teller rüffelte sie einen Pilz und gab zwei dünne Spargelspitzen hinzu, so daß das Ganze aussah wie ein Blumenarrangement. Sie lächelte mir schüchtern zu, freute sich an dem Bild, das sie gestaltet hatte. »Kochen Sie?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich habe auch selten Anlaß dazu, außer wenn Lyle hier ist. Raymond würde es nicht mitkriegen, und ich gäbe mich wohl kaum damit ab, wenn es nur für mich wäre.« Sie hob den Kopf.
    »Da.«
    Ich hatte den Kleinlaster nicht in die Einfahrt kommen hören, aber sie mußte auf Lyles Ankunft eingestimmt sein. Ihre Hand wanderte unbewußt zu einer Haarsträhne, die sie zurückstrich. Er trat durch einen Abstellraum links herein und hielt an der Ecke inne, offenbar um seine Stiefel auszuziehen. Ich hörte zwei Aufschläge. »Hey, Baby, was gibt’s zu futtern?«
    Er trat mit einem Grinsen in das Eßzimmer und gab ihr einen geräuschvollen Schmatz auf die Wange, bevor er mich erblickte. Er zögerte, sein munterer Gesichtsausdruck geriet ins Wanken und verschwand. Abwartend schaute er Grace an.
    »Das ist Miss Millhone«, sagte sie zu ihm.
    »Kinsey«, ergänzte ich und streckte die Hand aus. Er ergriff sie und schüttelte sie automatisch, aber die zentrale Frage war nach wie vor nicht beantwortet. Ich vermutete, daß ich bei einem Anlaß störte, der normalerweise keine Abwandlung zuließ. »Ich bin Privatdetektiv, aus Santa Teresa«, sagte ich.
    Lyle ging zu Raymond hinüber, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
    »Hey, Paps, wie geht’s uns heute? Alles in Ordnung?«
    Das Gesicht des alten Mannes reagierte nicht, aber seine Augen richteten sich auf ihn. Lyle nahm ihm die Kopfhörer herunter und schaltete auch den Fernseher aus. Die Veränderung bei Lyle war unmittelbar erfolgt, und es kam mir vor, als hätte ich gerade Momentaufnahmen von zwei verschiedenen Persönlichkeiten in ein und demselben Körper gesehen, die eine fröhlich, die andere auf der Hut. Er war nicht viel größer als ich und körperlich fit, mit breiten Schultern. Er trug ein offenes Hemd über der Hose. Seine Brustmuskulatur war nicht besonders stark, aber gut geformt wie bei einem Mann, der mit Gewichten trainiert. Ich schätzte ihn auf etwa mein Alter. Seine Haare waren blond, lang und leicht getönt vom Grün eines gechlorten Schwimmbads und von heißer Sonne. Seine Augen waren verwaschen blau, zu hell für seine Hautfarbe, seine Wimpern gebleicht, sein Kinn zu schmal gegen die Breite seiner Wangen. Der Gesamteindruck war der eines seltsam schiefen Gesichts — gutaussehend, aber kaum merklich entgleist, als wäre unter der Oberfläche ein Haarriß. Irgendein unterirdisches Beben hatte eine minimale Verschiebung der Knochen bewirkt, und die beiden Hälften seines Gesichts schienen nicht ganz zueinander zu passen. Er trug abgewetzte Jeans tief in den Hüften, und ich konnte die seidige Linie ziemlich dunkler Haare sehen, die wie ein Pfeil auf seinen

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