Kinsey Millhone 02- In aller Stille
jeden Aktenschrankes befanden sich kleine Blechrahmen, in die handgeschriebene weiße Kärtchen geschoben worden waren. A-C stand auf dem ersten. D-F stand auf dem nächsten. Diese alten Aktenschränke kann man nämlich nicht abschließen. Also, manchmal schon, aber diese hier nicht. Außerdem würde ich mir eine ziemlich lange Lügengeschichte ausdenken müssen, dachte ich. Und ich könnte auf der falschen Spur sein, dann würde ich bloß jedermanns Zeit, einschließlich meiner eigenen, verschwenden. Ich zögerte nur noch, weil die Gerichte sich manchmal wirklich anstellen, wenn es um die moralische Integrität der Beweisstücke geht. Man sollte also nicht herumlaufen und Informationen stehlen, von denen man hofft, daß man sie später als die »Beweisstücke A u. B der Anklage« anpreisen könnte. Es sind die Cops, von denen erwartet wird, daß sie all dieses Zeug heranschaffen, es etikettieren und beschriften und peinlich genau Buch darüber führen, wer Zugang dazu hatte und wo es gewesen ist. Beweiskette, nennt man das. Ich meine, schließlich habe ich den ganzen Quatsch gelesen und kenne mich aus.
Ich rief »Huhuu!« und wartete. Dabei fragte ich mich, ob »huhuu«, so wie »Mama« und »dada« einer der Ausdrücke ist, die in den meisten Sprachen auftauchen. Wenn nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden jemand reagierte, würde ich zum Betrug übergehen.
24
Frau Dr. Pickett erschien. Zumindest nahm ich an, daß sie es war. Sie war stämmig und hatte ein großes rundes Gesicht, eine randlose Brille und eine leichte Boxernase. Das Kleid, das sie trug, war aus marineblauem Jersey, der mit winzigen weißen, in alle Richtungen fliegenden Pfeilen bedruckt war. Ihre Haare hatte sie oben auf dem Kopf zusammengenommen und mit einem Gummiband befestigt. Wie von einem kleinen Springbrunnen fielen die Locken kaskadenartig herab. Sie hatte eine weite, weiße Schürze mit einem Latz vorn umgebunden, an der sie jetzt verlegen die Stoffalten glattstrich.
»Also, äh, ich dachte, ich hätte jemanden hier gehört, aber ich glaube nicht, daß ich Ihren Namen kenne«, begann sie. Ihre Stimme war honigsüß und mit einem leichten Südstaaten-Akzent gefärbt.
Im Bruchteil einer Sekunde mußte ich entscheiden, ob ich die Wahrheit sagen sollte. Ich streckte ihr die Hand hin und nannte meinen Namen. »Ich bin Privatdetektivin«, fügte ich hinzu.
»Ja, wirklich?« staunte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Was um alles in der Welt kann ich für Sie tun?«
»Tja, da bin ich mir auch noch nicht so sicher«, meinte ich. »Sind Sie Mrs. Pickett?«
»Ja«, erwiderte sie. »Ich hoffe, Sie stellen keine Ermittlungen über John an?« Voller Dramatik glitt ihre Stimme melodisch auf und nieder.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich untersuche den Tod einer Frau, die hier in der Nachbarschaft gewohnt hat...«
»Und ich wette, Sie sprechen von Marty Grice.«
»Ja, genau«, sagte ich.
»Ach, war das nicht ’ne grauenvolle Sache? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie außer mir ich war, als ich das hörte. So ’ne nette Frau wie sie, und muß so ’n Schicksal erleiden. Aber so ist das eben im Leben.«
»Schrecklich«, bekräftigte ich.
»Und wissen Sie was? Die haben den, der das gemacht hat, nie gekriegt.«
»Sie war Patientin von Dr. Pickett, nicht wahr?«
»Aber sicher. Und eine nettere Person gab’s nicht auf Erden. Wissen Sie, sie kam gewöhnlich immer mal hier vorbei. Sie setzte sich genau dahin, und wir hielten ein Pläuschchen. Als meine Arthritis auftrat, half sie uns beim Bedienen des Telefons und was nicht sonst noch. Ich habe John noch nie so bestürzt gesehen wie damals, als wir hinaus mußten, um ihre Überreste zu identifizieren. Ich glaube, er hat eine Woche lang nicht mehr geschlafen.«
»Hatte er die Röntgenaufnahmen von den Zähnen während der Autopsie gemacht?«
»Das war der Pathologe. John brachte die Röntgenbilder mit, die er in der Praxis gemacht hatte, und sie haben sie gleich auf der Stelle miteinander verglichen. Da gab’s natürlich keinen Zweifel. Es war bloß eine Formalität, haben sie uns gesagt. Er hatte diese Röntgenaufnahmen keine sechs Wochen vor ihrem Tod aufgenommen. Mir hat ihr Mann dermaßen leid getan, ich dachte, ich müßte würgen. Wir gingen auch zu der Beerdigung, wissen Sie, und ich habe mich so schrecklich blamiert wie noch nie. Hab geheult wie ’n Baby, und John auch. Ach so, aber sicherlich ist er es, mit dem Sie reden wollen. Dies ist sein freier Tag, aber er müßte bald
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