Kinsey Millhone 02- In aller Stille
angefangen, die Knoten zu entwirren, und ich konnte nur hoffen, fertigzuwerden, bevor er nervös wurde und die Forderung auszahlte.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins, und der Schlosser sollte um vier kommen. Ich setzte mich an den Schreibtisch und zog die Akte über Elaine Boldt hervor. Vielleicht gab es ja etwas, das ich übersehen hatte. Ich versah meinen Angelhaken mit einem Köder und begann aufs Geratewohl zu suchen. Ich hatte das Gefühl, daß ich meine Notizen schon hundertmal durchgesehen hatte, und ich konnte nicht glauben, daß etwas Neues auftauchen würde. Wieder ging ich zurück und las jeden Bericht, den ich hatte. Ich befestigte alle meine Karteikarten an der Pinnwand, zuerst in ihrer Reihenfolge, dann wahllos, um zu sehen, ob sich Widersprüche ergaben. Das ganze Material, das Jonah mir aus den Mordkommissionsakten fotokopiert hatte, las ich noch einmal, und ich studierte die glänzenden 8x10-Fotos vom Tatort, bis ich jede Einzelheit auswendig kannte. Wie war Marty getötet worden? Ein »stumpfer Gegenstand« konnte so ziemlich alles bedeuten.
Eine Menge Sachen störten mich — unwichtige Fragen brummten mir wie ein Schwarm Stechmücken im Hinterkopf herum. Inzwischen glaubte ich, daß Elaine, wenn sie tot war, ziemlich früh getötet worden sein mußte. Noch hatte ich keinen Beweis, aber ich vermutete, daß Pat Usher sich als Elaine ausgegeben und die ganze Scheinabreise nach Florida als Trick inszeniert hatte. So hatte sie eine falsche Spur gelegt, um die Vorstellung zu erwecken, daß Elaine lebte, es ihr gut ging und sie auf dem Weg aus der Stadt war, als sie in Wirklichkeit schon nicht mehr lebte. Aber wenn sie in Santa Teresa umgebracht worden war, wo war die Leiche? Sich einer Leiche zu entledigen, ist ein nicht zu unterschätzendes Kunststück. Schleudere sie ins Meer, und sie schwemmt auf und treibt gleich zurück. Wirf sie in den Wald, und ein Jogger wird um sechs Uhr morgens drüber stolpern. Was kann man sonst noch damit anfangen? Man beerdigt sie. Vielleicht war die Leiche in Grices Keller verborgen. Ich erinnerte mich an den Beton dort unten — aufgesprungener Beton und festgestampfte Erde — und ich dachte, ja, das könnte erklären, warum Leonard keine Aufräumtruppe reingelassen hatte. Als ich das Haus der Grices zum ersten Mal durchsucht hatte, war ich einfach nur dankbar für mein Glück gewesen, aber selbst damals klang es fast schon zu gut, um wahr zu sein. Vielleicht hatte Leonard vermeiden wollen, daß diese Zerstörungsexperten da unten herumklopften.
Pat Usher störte mich auch. Jonah hatte keine Möglichkeit gehabt, sie durchs National Crime Information Center checken zu lassen, weil der Computer nicht funktionierte. Inzwischen war er nach Idaho unterwegs, aber vielleicht konnte ich Spillman den Namen eingeben lassen, um zu sehen, was dabei herauskam. Ich glaubte nicht, daß Pat Usher ihr richtiger Name war, aber er könnte sich als Deckname heraussteilen — wenn sie ein Strafregister hatte, was zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich war. Ich nahm einen Block heraus und machte mir eine Notiz. Vielleicht konnte ich durch eine wohlüberlegte Rückverfolgung der Spuren herausfinden, wer sie war und wie sie mit Leonard Grice in Verbindung gekommen war.
Ich ging den neuen Stapel von Elaines Rechnungen durch, den Tillie mir gegeben hatte, und sortierte die paar Reklameschreiben aus. Eine Terminerinnerung von einem Zahnarzt aus der Nachbarschaft legte ich zur Seite. Elaine Boldt besaß keinen Führerschein, und ich wußte, daß sie Geschäfte besuchte, die sie von ihrer Wohnung aus zu Fuß erreichen konnte. Ich erinnerte mich, daß in dem ersten Stoß Rechnungen, den ich gesehen hatte, eine Rechnung von demselben Zahnarzt gewesen war. John Pickett, D. D. S., Inc. Wo war er mir schon einmal begegnet? Ich blätterte wieder das Material aus der Mordakte durch und überflog jede einzelne Seite. Aha. Kein Wunder, daß der Name mich an etwas erinnerte. Er war der Zahnarzt, der die Rundum-Röntgenaufnahme des Gebisses erstellt hatte, die zur Identifizierung von Marty Grice benutzt worden war. Es klopfte an der Tür, und ich sah überrascht auf. Es war bereits vier Uhr.
Ich schaute durch den kleinen Türspion und öffnete die Tür. Die Schlosserin war noch jung, vielleicht zweiundzwanzig. Sie ließ ein Lächeln aufblitzen, das ihre schönen weißen Zähne zur Geltung brachte.
»Guten Tag«, grüßte sie. »Ich bin Becky. Bin ich hier richtig? Ich hab es vorn schon versucht,
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