Kinsey Millhone 02- In aller Stille
Wohnung oben bekommen?«
»Natürlich«, sagte sie. »Ich komme mit.«
Sie legte ihre Handarbeit hin, ging zu dem Sekretär hinüber und nahm ein Paar Schlüssel aus der Schublade. Bei dieser Gelegenheit händigte sie mir ein Bündel Rechnungen aus, und ich steckte sie in die hintere Jeanstasche. Das erinnerte mich vage an etwas, aber mir fiel nicht ein, woran.
Sie schloß ihre Wohnung ab, und wir gingen zum Aufzug.
»Sie haben niemanden über sich herumgehen hören?«
Sie schaute mich an. »Überhaupt nicht, aber dieses Haus ist gut gebaut, und es könnte jemand oben sein, ohne daß ich etwas höre. Glauben Sie wirklich, daß er jemanden da oben hatte?«
»Es ergibt Sinn«, erwiderte ich. »Ohne Elaine auf der Bildfläche ist es ein perfektes kleines Liebesnest. Vielleicht hat Pat Usher einen Weg gefunden hineinzukommen. Ich bin sicher, daß sie irgendwo hier in der Stadt ist. Wenn sie Zugang zu Elaines Wohnung in Florida hatte, warum nicht auch zu dieser? Übrigens, waren Sie am Sonntagabend hier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war bei einem kirchlichen Treffen und bin erst kurz nach zehn nach Hause gekommen.«
Im zweiten Stock öffnete sich die Aufzugstür, und Tillie ging links den Flur hinunter und redete über die Schulter hinweg mit mir. Sie erreichte Elaines Eingangstür und drehte den Schlüssel im Schloß herum.
»Ich kann nicht glauben, daß jemand hier war«, sagte sie, als wir hineingingen.
Sie irrte sich natürlich. Wim Hoover, der Bewohner aus Nummer 10, lag ausgestreckt im Eingang und hatte ein Einschußloch genau hinter dem rechten Ohr. Die Luft roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und dem stinkenden Geruch, der von seinem säuerlichen Fleisch aufstieg. Er war seit mindestens drei Tagen tot.
Tillie wurde blaß und ging zu ihrer Wohnung hinunter, um die Polizei zu rufen.
23
Wie es meine Gewohnheit ist, machte ich einen schnellen Rundgang in der Wohnung, während Tillie die Cops holte. Ich hatte ihr eingeschärft, meinen Namen herauszuhalten, weil ich nicht aufgehalten werden und eine von Lieutenant Dolans berühmten Blitzbefragungen mitmachen wollte. Ich hatte bereits Ärger mit der California Fidelity, und ich konnte Dolan nicht auch noch verkraften. Die Wohnung roch so faulig, daß ich dachte, Tillie würde keine Schwierigkeiten damit haben, zu erklären, was sie dazu gebracht hatte, hochzukommen und nachzuschauen.
Man brauchte kein Sherlock Holmes zu sein, um auf den Gedanken zu kommen, daß Pat Usher hier gewohnt hatte. Sie hatte keinen Versuch gemacht, ihre Anwesenheit zu vertuschen. Das gazeartige Gewand, das ich in Boca Raton an ihr gesehen hatte, war jetzt nachlässig über Elaines ungemachtes Bett geworfen. Offensichtlich hatte sie sich an allem, was sie brauchte, bedient — Lebensmittel, Kleidung, Kosmetik. Überall standen schmutziges Geschirr, randvolle Aschenbecher, und aus der braunen Papiertüte mit ihrer ordentlich umgeschlagenen Kante quoll der Abfall. Die Spurensicherung würde ihren Spaß an dieser Wohnung haben, aber was mich am meisten interessierte, war das kleine Zimmer. Alle Schreibtischschubladen waren geöffnet worden, ihr Inhalt in Raserei überall verteilt, die Aktenhefter in der Mitte durchgerissen. Es sah nach Pat Ushers üblicher Wut und Ungeduld aus. Ich fragte mich, was sie gesucht und ob sie es gefunden hatte. Ich rührte nichts an. Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, seit Tillie runtergegangen war, und ich dachte, ich sollte besser verschwinden. Ich wollte nicht mehr in der Nähe sein, wenn die Schwarzweißen auf ihre schrille Art in Sicht kamen.
Ich stoppte am Eingang und sah auf Wim hinunter. Er lag mit dem Gesicht nach unten, eine Hand unter die Wange gelegt, als hätte er vorgehabt, ein Nickerchen zu machen. Sein Fleisch war geschwollen, die Haut verdunkelt. Das Einschußloch war so sauber wie die Öse für einen Schnürriemen. Die Waffe war möglicherweise eine .22er gewesen — in der Regel keine tödliche Waffe, aber laß eine Kugel in einem menschlichen Schädel herumsausen, und sie kann ein Gehirn in Nullkommanichts in Rührei verwandeln. Armer Wim. Ich fragte mich, warum sie ihn getötet hatte. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß es Pat gewesen war. Hatte sie auch Marty Grice ermordet? Die Autopsie hatte keine Schußwunden ergeben, nur wiederholte Schläge mit einem nicht identifizierten stumpfen Gegenstand. Was war das für eine Waffe gewesen, und wo war sie?
Mit dem Aufzug fuhr ich hinunter und verließ das Gebäude, ohne
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