Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
Sträucher am Eindringen gehindert. Ich machte die Tür wieder zu, ging zurück zu dem Kühlraum für die Leichen und warf einen kurzen Blick hinein.
Kein Alfie weit und breit. Innen schimmerte das Licht beständig. Die Anwesenden waren auf blaue Fiberglashegen gebettet, versunken in ewigem, regungslosem Schlaf. Einige von ihnen waren in Laken gehüllt, andere in Plastikfolien, Hals und Gelenke mit Streifen verbunden, die wie Kreppband aussahen. Die Szene erinnerte mich irgendwie an den Mittagsschlaf im Ferienlager.
Ich ging wieder in den Hauptsaal zurück, setzte mich erst einmal hin und starrte auf den Obduktionstisch. Meine übliche Vorgehensweise wäre gewesen, in jedem Schrank, jeder Schublade und jedem Behälter herumzustöbern, aber hier wäre mir das wie eine Respektlosigkeit vorgekommen. Vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst, auf irgend etwas Groteskes zu stoßen: auf Tabletts voller Gebisse oder einen Steinkrug, randvoll mit kullernden Augäpfeln. Ich habe keine Ahnung, was ich mir alles vorstellte. Unruhig bewegte ich mich hin und her. Ich hatte den Eindruck, Zeit zu vergeuden. Dann ging ich zur Tür und sah auf den Flur, meinen Kopf leicht schief gelegt, um besser hören zu können. Stille.
»Alfie?« rief ich. Ich strengte mein Gehör noch mal an, zuckte die Achseln - und machte die Tür wieder zu. Mir kam die Idee, daß ich, da ich nun schon mal hier war, zumindest überprüfen könnte, ob die Nummer, die Bobby aufgeschrieben hatte, mit der Nummer auf Franklins Zehanhänger übereinstimmte. Schaden könnte es jedenfalls nicht. Ich holte das Adreßbuch aus meiner Handtasche und schlug die Rückseite mit der mit Bleistift geschriebenen Eintragung auf. Noch einmal betrat ich den Kühlraum, ging von Leiche zu Leiche und verglich die Schilder mit den Identifikationsnummern. Ich kam mir fast vor wie bei einer Haushaltsauflösung, bloß daß die Preise nicht heruntergesetzt waren.
Bei der dritten Leiche stimmten die Zahlen überein. Kelly hatte also recht gehabt. Bobby hatte den Bindestrich so gesetzt, daß die aus sieben Ziffern bestehende Zahl wie eine Telefonnummer aussah. Ich sah auf die Leiche, oder auf das, was ich von ihr erkennen konnte. Die Plastikfolie, in die Franklin eingewickelt war, war zwar durchsichtig, doch ein wenig vergilbt, als hätte sich Nikotin abgesetzt. Durch die Folie konnte ich erkennen, daß es sich um einen mittelgroßen Schwarzen mittleren Alters handelte, mit schlanker Figur und einem Gesicht aus Stein. Was hatte diese Leiche nur für eine Bedeutung? Mich überkam ein Gefühl der Angst. Mir fiel ein, daß Alfie sicherlich bald auftauchen würde, und ich wollte nun wirklich nicht beim Herumschnüffeln in diesem Raum ertappt werden. Ich ging also wieder zu meinem Stuhl zurück.
Beim Hinausgehen hatte ich das Gefühl, ich verließe ein klimatisiertes Theater. Im Vergleich zum Kühlraum herrschte im Obduktionssaal eine geradezu milde Temperatur. Mir juckte es in den Fingern, herumzuschnüffeln. Ich konnte nichts dagegen machen. Es irritierte mich, daß niemand da war, um mir weiterzuhelfen. Außerdem machte mich diese Stille nervös. Dies war nun wirklich kein amüsanter Ort. Normalerweise treibe ich mich ja auch nicht in Leichenschauhäusern herum, daher wurde ich immer angespannter.
Nur zur Nervenberuhigung spähte ich in eine Schublade, um den Inhalt auf die von mir heraufbeschworenen Gruselbilder hin zu untersuchen. Sie enthielt nur Notizblöcke, Bestellformulare und anderen Papierkram. Ein wenig beruhigt, probierte ich es mit dem nächsten Schubfach: kleine Glasfläschchen mit unterschiedlichen Arzneien, deren Bezeichnungen mir nichts sagten. Ich fühlte mich allmählich sicherer und durchsuchte sie eine nach der anderen. Alles schien mit dem Gewerbe des Leichenöffners in Zusammenhang zu stehen. Angesichts der Örtlichkeit war das nicht sehr überraschend, allerdings auch nicht sehr aufschlußreich.
Ich richtete mich auf und schaute mich im Raum um. Wo befanden sich eigentlich die Akten? Führt denn hier unten niemand Buch? Irgendwer hatte doch erwähnt, daß hier draußen medizinische Berichte aufbewahrt wurden, aber wo? In diesem Stockwerk? Oder in einer der oberen Etagen? Der Gedanke, allein durch das leere Gebäude zu schleichen, gefiel mir nicht besonders. Ich hatte mir Alfie Leadbretter an meiner Seite vorgestellt, der mich darauf hinwies, wo ich Zutritt hatte und wo ich anfangen sollte. Ich hatte mich sogar schon gesehen, wie ich ihm einen
Weitere Kostenlose Bücher