Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
Zwanzigdollarschein zuschob, falls das seine Hilfsbereitschaft förderte.
Ich sah auf meine Armbanduhr. Jetzt war ich bereits seit fünfundvierzig Minuten hier und wollte langsam Resultate sehen. Ich schnappte mir meine Handtasche und ging in den Flur hinaus, wo ich mich in beide Richtungen umsah. Es wurde allmählich dunkler hier unten, obwohl ich durch ein Fenster am Ende des Ganges erkennen konnte, daß es draußen noch hell war. Ich entdeckte schließlich einen Lichtschalter, schaltete die Lampen ein und ging langsam den Korridor entlang, wobei ich las, was auf den kleinen weißen Schildern stand, die über jeder Tür angebracht waren. Die Röntgenlabors befanden sich direkt neben der Leichenhalle. Dahinter waren Labors für Nuklearmedizin und Räume der Beschäftigten. Ich fragte mich, ob Sufi Daniels die Möglichkeit gehabt hatte, hier herauszufahren.
In meinem Hinterkopf begann etwas zu rotieren. Ich mußte an den Pappkarton mit Bobbys Sachen denken. Was war alles darin gewesen? Medizinische Schriften, Bürozubehör und zwei Röntgenanleitungen. Wozu hatte er die eigentlich gebraucht? Er war noch nicht einmal Medizinstudent gewesen, und ich konnte mir nicht vorstellen, wozu er Gebrauchsanleitungen für eine Anlage benötigte, die er in den kommenden Jahren wohl kaum benutzt hätte, wenn überhaupt jemals. Er hatte für Radiologie kein besonderes Interesse gezeigt.
Ich stieg die Treppe hinauf. Es konnte nicht schaden, sich das Zeug noch mal anzusehen. Als ich am Vordereingang ankam, zog ich das Sweatshirt aus und schob es in den Türspalt. Ich hätte die Tür problemlos aufdrücken können, aber ich wollte vermeiden, daß das Schloß laut hinter mir zuschnappte, wenn ich hinausging. Ich ging zum Wagen, schloß ihn auf und holte den Karton vom Rücksitz. Ich nahm die beiden Bücher über Radiologie heraus und blätterte sie flüchtig durch. Es handelte sich um Gebrauchsanleitungen für ganz bestimmte Geräte, mit Informationen über deren verschiedene Anzeigen, Skalen und Schalter und einer ganzen Menge abgehobenem Geschwätz über Bestrahlungsdosen, rad-Einheiten und Röntgenstrahlen. Am oberen Rand einer Seite befand sich eine mit Bleistift geschriebene Zahl, fast wie beiläufiges Gekritzel, mit lauter Schnörkeln drumherum. Wieder Franklins Nummer. Der Anblick der mir inzwischen wohlvertrauten siebenziffrigen Zahl war mir unheimlich, ähnlich wie Bobbys Stimme auf meinem Anrufbeantworter, nachdem er bereits fünf Tage tot war.
Ich klemmte mir die beiden Bücher unter den Arm, schloß den Wagen wieder ab, ließ aber die Kiste auf dem Fahrersitz stehen. Gemächlich ging ich wieder auf das Gebäude zu. Ich machte die Tür auf und zog mir das Sweatshirt über. In der ersten Etage angekommen, verschaffte ich mir einen groben Überblick. Ich hatte immer wieder die fixe Idee, nach dem Hausarchiv suchen zu müssen; daß die Tatwaffe irgendwo in eine Kiste mit Akten gestopft und mit alten Tabellen zugedeckt worden war. Das Krankenhaus hier war ein funktionierender Betrieb gewesen, und es mußte auch irgendwo ein Archiv geben. Wo sollten die alten Berichte sonst aufbewahrt werden? Wenn ich mich recht erinnerte, war es im St. Terry so, daß das Krankenhausarchiv recht zentral gelegen war, damit Ärzte und anderes autorisiertes Personal leichten Zugriff hatten.
Nicht viele Büros in diesem Stockwerk schienen belegt zu sein. Ich drehte wahllos an ein paar Türgriffen. Die meisten waren abgeschlossen. Am Ende des Flures bog ich um die Ecke, und siehe da, da stand es, »Krankenhausarchiv«, ein verwaschener Schriftzug, der einmal über ein Paar Doppeltüren gepinselt worden war. Jetzt erst konnte ich erkennen, daß eine ganze Reihe der ehemaligen Stationen ähnlich gekennzeichnet waren: große Buchstaben mit übertriebenen Schnörkeln wie eine Proklamation der spanischen Konquistadoren.
In der Erwartung, mit meinen Dietrichen herumexperimentieren zu müssen, drehte ich am Türknauf. Doch mit einem leisen Quietschen, das von einem Erfinder von Spezialeffekten hätte stammen können, ging sie auf. Verblassendes Tageslicht fiel in den Raum, eine Leere gähnte mir entgegen, eine Öde, in der es nichts mehr gab. Keine Aktenschränke, kein Mobiliar, keine Einrichtungsgegenstände. Auf dem Boden verstreut lagen eine zerknüllte Zigarettenschachtel, einzelne Regalbretter und ein paar krumme Nägel. Diese Abteilung war im wahrsten Sinne des Wortes demontiert worden, und Gott allein wußte, wo die alten Unterlagen gelandet
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