Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke
Betrieb öffnete. Das hieß, daß ich meinen Lauf ausfallen lassen mußte. Ich würde mit der dumpfen Angst leben müssen, die in meinen Knochen zirkulierte. Sport vertreibt so etwas besser als alles andere. Ohne das Joggen würde meine Angst nur noch zunehmen. Ich schleppte mich unter die Dusche, zog mich an, trank hastig, goß den Rest in eine Thermoskanne und nippte daran, während ich die zehn Meilen nach Colgate zurücklegte.
Lance wurde erst nach zehn erwartet, und Terry hatte Urlaub, aber Ava saß an ihrem Schreibtisch. Sie wirkte düster und sauer. Sie hatte ihren abgebrochenen Nagel repariert, und die Farbe war von Knallrot zu Mauve gewechselt, mit einem Tupfer Dunkelbraun auf jeder Fingerspitze. Sie trug ein Kleid aus purpurfarbenem Jersey, mit einem roten Streifen schräg über der Brust.
»Ich habe gestern meine Karte für Sie hiergelassen. Ich hatte gehofft, Sie würden anrufen«, sagte ich, als ich in dem Metall-sessel neben ihrem Schreibtisch Platz nahm.
»Tut mir leid. Wir hatten unheimlich viel zu tun.« Sie konzentrierte ihren Blick auf mich. Sorge stand darin. Die Dame war in der richtigen Stimmung, um zu reden. »Ich habe heute morgen im Radio von der Sache mit Lyda Case gehört«, fing sie an. »Ich begreife einfach nicht, was hier vorgeht.«
»Haben Sie Lyda gekannt?«
»Nicht direkt. Ich habe nur ein paarmal mit ihr telefoniert. Aber ich war mit einem Mann verheiratet, der Selbstmord begangen hat. Ich weiß, wie einen das fertigmachen kann.«
»Vor allem, wo es keine Möglichkeit gab, das zu klären. Sie wissen ja bestimmt, daß seine ganzen Laborproben innerhalb weniger Tage verschwunden sind.«
»Na ja, ich hatte davon gehört, aber ich war mir nicht sicher, ob es stimmte. Manchmal ist es schwer, einen Selbstmord zu akzeptieren. Die Leute erfinden Dinge, ohne es eigentlich zu wollen. Was ist mit Lyda passiert? Im Radio hieß es nur, ihr Leichnam wäre gefunden worden. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzt ich war. Es ist einfach schrecklich.«
Ich erzählte ihr die Einzelheiten, ersparte ihr wenig. Für gewöhnlich spiele ich die Details herunter, weil ich den Appetit der Öffentlichkeit nicht noch anregen will, wenn es um die Grausamkeit eines gewaltsamen Todes geht. Aber bei Ava hatte ich das Gefühl, die Realität könnte ihre Zunge lösen. Sie hörte mir mit allen Anzeichen des Abscheus zu, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Angst.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?« fragte sie.
»Nein, überhaupt nicht. Nur zu.«
Sie öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtisches und zog ihre Handtasche heraus. Ihre Hände zitterten, als sie eine Winston aus der Schachtel schüttelte und anzündete. »Ich habe versucht aufzuhören, aber ich kann einfach nicht anders. Ich bin am Drugstore vorbeigefahren und habe mir auf dem Weg zur Arbeit eine Schachtel gekauft. Im Auto habe ich schon zwei geraucht.« Sie nahm einen tiefen Zug. Einer der Ingenieure starrte von seinem Zeichentisch zu uns herüber, als der Rauch ihm in die Nase stieg. Sie wandte ihm den Rücken zu und konnte deshalb den ärgerlichen Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen.
»Zurück zu Hughs Tod«, schlug ich vor.
»Da kann ich Ihnen nicht viel helfen. Ich war erst ein paar Wochen in der Firma, als er starb, kannte den Mann also kaum.«
»Gab es vor Ihnen schon eine Bürovorsteherin?«
Ava schüttelte den Kopf. »Ich war die erste, und das hieß, daß das Büro vollkommen durcheinander war. Niemand hat irgendwas getan. Allein die Akten stapelten sich schon meterhoch. Es gab nur eine Sekretärin. Heather war Empfangsdame, aber die ganzen alltäglichen Dinge wurden von Woody selbst oder einem der Ingenieure erledigt. Ich habe sechs Monate gebraucht, um Ordnung zu schaffen. Ingenieure mögen ja besessen sein, aber nicht, wenn es um den Papierkram geht.« Sie nahm noch einen Zug, streifte dann das kleine bißchen Asche vom Ende der Zigarette ab.
»Wie war die Stimmung hier damals? Angespannt? Hatten irgendwelche Leute hier im Büro Ärger miteinander?«
»Ich habe nie so etwas gehört. Woody hatte sich bei einer Ausschreibung der Regierung beworben, und wir haben versucht, das zu organisieren...«
»Was hieß das?«
»Routinesachen. Da waren Formulare auszufüllen, Bescheinigungen einzuholen, so ’n Zeug eben.«
»Was ist aus der Sache geworden?«
»Nichts. Das Ganze fiel ins Wasser. Woody hatte einen Herzanfall, und nach seinem Tod ließ Lance das Projekt fallen.«
»Worum handelte es sich
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