Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass
Fahrweise gemeldet, denn der Beamte sah alarmiert zu uns herüber, als wir aneinander vorbeirauschten. Raymond zog über zwei Spuren nach rechts hinüber und nahm die nächste Ausfahrt. Selbst wenn der Polizist umkehren würde — wir waren weg. Raymond suchte eine dunkle Seitenstraße und fuhr an den Bordstein. Er lehnte sich zurück und atmete tief aus. Ich zitterte vor Angst und Erleichterung. In meinem Kopf wirbelten Visionen von dem, was Bibianna erwartete, und blutige Bilder von ihrer Mutter, die ich nie gesehen hatte. Ich sah Parnell vor mir, bäuchlings auf dem Asphalt, eine Kugel im Kopf. Ich klemmte die Hände zwischen die Knie. Meine Zähne klapperten, und mein Atem ging stoßweise.
Raymond sah mich verblüfft an. »Was ist denn mit Ihnen los?«
»Lassen Sie mich. Ich will nicht mit Ihnen reden«, sagte ich.
»Ich hab’ doch nichts getan. Was hab’ ich denn gemacht?«
»Sie haben nichts getan? Das ist ja nicht zu fassen...«
»Das Luder hat meinen Wagen geklaut, und ich bin ihr nachgefahren. Was denn sonst?«
»Sie sind verrückt!«
» Ich bin verrückt? Wieso? Weil ich mich von dem kleinen Miststück nicht verschaukeln lasse? Nicht mit mir. Da können Sie Gift drauf nehmen.«
»Und was passiert jetzt?«
»Keine Ahnung.«
Ich setzte mich irritiert auf. »Spielen Sie nicht den Ahnungslosen, Raymond. Was wird Chopper mit ihr machen?«
»Was weiß ich? Bin ich ein gottverdammter Hellseher? Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Das ist doch nicht Ihr Bier.«
»Und was ist mit ihrer Mutter?«
»Was geht Sie das an? Hören Sie auf, so zu tun, als war’ das alles meine Schuld.«
Ich sah ihn verdutzt an. »Wessen Schuld ist es denn?«
»Bibiannas«, sagte er, als sei das sonnenklar.
»Wieso ihre? Sie haben die Frau doch verletzt.«
»Wen? Gina? Sie ist doch noch am Leben, oder? Chago nicht. Mein Bruder ist tot. Was glauben Sie, wer das getan hat?«
»Bibianna nicht«, schnappte ich zurück.
»Eben«, erklärte er geduldig. »Sie hat nichts getan. Sie ist ganz und gar unschuldig, stimmt’s? Genau wie er. Auge um Auge. Das steht schon in der Bibel, und darum geht’s doch. Herrgott, ich hätt’ das Luder umbringen können, aber ich hab’s nicht getan. Oder hab ich’s vielleicht getan? Und wissen Sie, warum ich’s nicht getan hab? Weil ich ein guter Mensch bin. Niemand will mir das glauben. Bibianna muss lernen, dass sie mich nicht für dumm verkaufen kann. Das hab’ ich Ihnen ja schon mal gesagt. Glauben Sie vielleicht, ich tu’ das gern? Hätt’ sie gleich getan, was ich ihr gesagt hab’, wär’ das alles nicht nötig gewesen.«
»Und was haben Sie ihr gesagt?«
»Dass sie aufhören soll, in der Gegend rumzuschwänzeln, und endlich ernst machen. Sie hätt’ mich heiraten sollen, als ich sie gefragt hab’. Ich bin nicht blöd, verstehen Sie? Ich weiß nicht, was jetzt passiert, aber ich bin mit meiner Geduld am Ende. Und das gilt auch für Sie. Kapiert?«
Ich starrte ihn sprachlos an. Seine Sicht der Dinge war so verquer, dass man nicht mit ihm argumentieren konnte. Er schien sich wirklich als armes, unschuldiges Opfer von Geschehnissen zu begreifen, bei denen alle anderen Beteiligten für ihr Verhalten verantwortlich waren und nur er nicht. Wie alle solchen »Opfer«, die mir im Leben begegnet sind, klammerte er sich an die »Ungerechtigkeit«, die ihm widerfahren war, als Rechtfertigung dafür, dass er andere misshandelte.
Raymond nahm wieder das Autotelefon und drückte eine Nummer. »Ey, Luis. Raymond. Zieh dir was an. Wir kommen dich holen.« Er sah auf seine Uhr. »Zehn Minuten. Und bring den Köter mit.«
Er ließ den Wagen an und fuhr los, zuerst nach links bis zu einer größeren Straße und dann nach Süden. Ich sah aus dem Fenster. Raymond kutschierte gemächlich mit vierzig Meilen dahin. Wir waren jetzt auf dem Sepulveda Boulevard, nicht weit vom Flughafen. Keine tolle Gegend, dachte ich, aber ich würde schon durchkommen, bis ich es schaffen würde, die Polizei zu erreichen. Ich öffnete die Wagentür. Raymond gab Gas.
»Bitte halten Sie an. Ich will aussteigen«, sagte ich.
Er griff wieder nach der Pistole und richtete sie auf mich. »Tür zu.«
Ich tat, was er sagte. Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. Im Schein der Straßenlaternen studierte ich sein Profil, das vom Duschen immer noch feuchte Haar, die verstrubbelten Locken, dunklen Augen, langen Wimpern, das Grübchen in seinem Kinn. Die Haut seines nackten Oberkörpers und seiner bloßen
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