Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Die Überschrift lautete: State of California Department of Health and Vital Statistics, Standard Certificate of Birth. Das Dokument selbst war in mehrere zweizeilige Rubriken unterteilt, in die mit Schreibmaschine die entsprechenden Daten eingetragen waren. Dietz hielt es sich dicht vors Gesicht wie jemand, dessen Sehkraft ihn im Stich lässt. »Viele Zeilen sind unterbrochen, und die Schrift ist nicht besonders deutlich. Wir sollten das in Sacramento überprüfen und uns das Original ansehen.«
»Du glaubst, dass jemand das Dokument frisiert hat?«
»Durchaus möglich. Man betupft das Original mit Korrekturflüssigkeit, übertippt die freien Stellen, und dann fotokopiert man das Ganze. Es wäre nicht für alle Zwecke ausreichend, aber für einen Schulaufsatz allemal. Vielleicht hat Agnes deshalb einen Tag gebraucht, um das Ding zu >finden<. Der Sinn beglaubigter Kopien ist eben der, dass sie beglaubigt sind, richtig?« Wieder dieses schiefe Lächeln und der Blick aus klaren grauen Augen.
»Wau, was für ein Gedanke«, sagte ich. »Was sie wohl zu verbergen hatte?«
Dietz zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist Irene ein uneheliches Kind.«
»Stimmt. Kennst du jemanden in Sacramento, mit dem wir uns in Verbindung setzen könnten?«
»Im Gesundheitsministerium? Da fällt mir so aus dem Stegreif niemand ein. Warum versuchen wir’s nicht hier beim Bezirksamt?«
»Das sollten wir sofort tun«, sagte ich.
»Warum diese Eile?«
»Weil ich es wissen will«, sagte ich entrüstet. »Außerdem — wenn wir jetzt etwas tun, wird Irene bereitwillig zahlen. Warten wir aber zwei Wochen, wird sie vergessen haben, dass es sie je interessiert hat.«
»Na, dann wollen wir mal«, sagte er. »Soll ich mir noch andere Dokumente ansehen?«
»Nein, mehr brauche ich nicht.«
»Großartig. Dann nichts wie weg hier.« Er reichte mir das Testament und den Geburtsschein, und ich legte beide in den Ordner. Er ließ den Motor an und fuhr los.
»Wohin?«, fragte ich.
»In dein Büro — Rochelle Messinger anrufen.«
Wir parkten auf dem hinteren Parkplatz und gingen die Außentreppe hinauf. Wie gewöhnlich beobachtete Dietz jeden Menschen in Sichtweite mit fast krankhaftem Misstrauen. Er umfasste meinen Ellenbogen und sah sich ständig nach allen Seiten um, bis wir sicher im Haus waren. Der Flur im zweiten Stock war leer. Als wir an den Toiletten vorbeikamen, sagte ich: »Ich muss hier schnell mal rein. Willst du die Büroschlüssel?«
»Klar. Ich seh dich in ein paar Minuten.« Er warf einen Blick in die Damentoilette, wurde mit einem Aufschrei der Empörung verjagt, zog sich zurück und ging weiter.
Ich machte die Tür auf und hörte das Gemurmel von Frauenstimmen. Darcy stand an einem Waschbecken und klatschte sich Wasser ins Gesicht. Ihrer teigigen Haut und dem leidenden Blick nach zu schließen, plagte sie nach dem Bankett gestern Abend noch ein hartnäckiger Kater. Sie starrte ihr Spiegelbild an. Ihr Haar sah aus wie eine zusammengedrückte Matratze. »Wenn dein Haar dich erst im Stich lässt, bist du ernstlich in Schwierigkeiten«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir.
»Wann bist du denn nach Hause gekommen?«, fragte ich.
»So spät war’s gar nicht, aber ich hab Anisette getrunken, und der hat mich geschafft. Um Mitternacht habe ich angefangen zu erbrechen, und es ist noch immer nicht vorbei.« Sie rieb sich das Gesicht und zog dann die Unterlider hinunter, um sich die Bindehaut anzusehen. »Nichts weckt eine so starke Todessehnsucht im Menschen wie ein Kater«, sagte sie.
Eine Toilettenspülung rauschte, und Vera kam aus einer der vier Kabinen. Sie knöpfte einen oliv- und kakifarbenen Tarnanzug zu, einen Overall mit großen Schulterstücken und Epauletten. Der Blick, den sie mir zuwarf, war nicht gerade freundlich. »Was war denn gestern Abend mit dir los?«, fragte sie bissig. Ich war erschöpft, meine Nerven waren angespannt, und ihr Ton passte mir ebenso wenig wie ihre Haltung.
»Ganz recht, gib’s mir nur, Vera«, sagte ich. »Unter anderem ist Agnes Grey gestorben. Ich bin erst nach drei ins Bett gekommen. Und du?«
Vera ging zum Waschbecken, ihre hohen Absätze klapperten über die Keramikfliesen. Sie drehte das Wasser viel zu weit auf, wurde von einem starken Strahl getroffen und sprang mit einem Satz zurück. »Scheiße!«, sagte sie.
»Agnes Grey?«, wiederholte Darcy. Sie beobachtete sehr aufmerksam im Spiegel unsere Gesichter.
»Die Mutter meiner Klientin«, sagte ich. »Sie ist tot
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