Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
gezähmt waren — ihre unterschwellige Wildheit und ihr Zorn ließen sich nicht domestizieren. Ich persönlich schätzte mich glücklich, dass ich nie Hand an ihr Junges gelegt hatte.
Als Dietz endete, war ihre Miene düster geworden. »Sie haben keine Ahnung, wie gewissenlos er ist«, sagte sie. »Mark ist sehr, sehr smart und verfügt über die unheimliche Intuition eines Psychopathen. Haben Sie schon mal mit einem zu tun gehabt? Es ist fast so, als könnten sie Gedanken lesen...«
Dietz wollte eben antworten, als Charles Abbott sich wieder meldete. »Ach, tatsächlich?«, sagte Dietz. »Ganz recht, der Junge ist fünf.« Er hörte einen Moment zu. »Vielen Dank. Absolut.« Mit übertriebener Sorgfalt legte er den Hörer auf. »Er ist mit dem Kind dort, in einem der Cottages hinter dem Haupthaus. Allem Anschein nach sind die beiden eben zum Schwimmen an den Pool gegangen. Ich habe Mr. Abbott gesagt, es werde keine Schwierigkeiten geben.«
»Natürlich nicht«, sagte sie.
»Wollen Sie die Polizei rufen?«
»Nein. Sie?«
Dem Blick nach zu urteilen, der zwischen ihnen hin und her ging, verstanden sie sich perfekt. Sie nahm eine Lederhandtasche vom Bett und holte einen kleinen nickelplatierten Derringer heraus. Zweischüssig. Ich grinste hinterhältig, doch sein Gesichtsausdruck blieb neutral. Du lieber Gott, und meine Waffe hatte er kritisiert.
»Was haben Sie vor, wenn es uns gelingt, Eric zurückzuholen?«, fragte er sie. »Nach Hause können Sie nicht mit ihm.«
»Ich habe einen Mietwagen, den ich am Flughafen stehen lasse. Mein Bruder ist Pilot und nimmt uns auf einem Charterplatz namens Neptune Air an Bord.«
Dietz wandte sich an mich. »Kennst du den?«
»So ungefähr. Er liegt auf dieser Seite des Flughafens an der Rockpit Road.«
Er drehte sich wieder zu Rochelle um. »Wann kommt Ihr Bruder?«
»Um neun, das lässt uns ausreichend Zeit, finden Sie nicht?«
»Das wollen wir doch hoffen. Was weiter?«
»Ich habe einen Unterschlupf, in dem wir uns verstecken können, solange wir wollen.«
Dietz nickte. »In Ordnung. Das klingt gut. Packen wir’s an.«
Ich hielt einen Finger in die Höhe, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und wies mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Kann ich mal kurz mit dir sprechen?«
Er sah mich zwar an, rührte sich jedoch nicht von der Stelle, und mir blieb nichts anderes übrig, als an Ort und Stelle fortzufahren.
»Ich möchte etwas nachprüfen und brauche ein Auto«, sagte ich. »Da könnte doch ich den Mietwagen nehmen, und ihr beide fahrt mit dem Porsche. Ihr wisst, wo Messinger ist, und seid auf dem Weg zu ihm. Da muss ich nicht dabei sein.«
Schweigen. Ich musste mich anstrengen, um jetzt kein überflüssiges Zeug zu schwatzen. Ich bin zu alt, um zu bitten und zu betteln. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie wir im Konvoi durch die Stadt fuhren — zu einem Kidnapping oder zu einer Schießerei mit Mark Messinger. Meine Anwesenheit war nicht vonnöten. Ich hatte etwas anderes auf der Pfanne. Rochelle lud ihre Waffe, beide Kammern. Es war zu lächerlich für Worte, aber irgendetwas lag mir plötzlich wie Blei im Magen.
Ich merkte, wie Dietz über meine Bitte nachdachte. Einen Augenblick lang zuckte so etwas wie eine außersinnliche Wahrnehmung in mir auf, und ich begriff, dass er sich sicherer gefühlt hätte, wenn ich mit ihm gekommen wäre. Er reichte mir seinen Autoschlüssel, ohne mir dabei richtig in die Augen zu sehen. »Nimm meinen Wagen. Messinger könnte ihn erkennen, wenn wir mit ihm auf den Hotelparkplatz fahren. Wir nehmen den Mietwagen. Was ich vorhin gesagt habe, gilt. Tu nichts Unüberlegtes.«
»Dito«, antwortete ich, vielleicht schärfer als beabsichtigt. »Ich treffe euch draußen auf dem Charterflugplatz.«
»Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
26
Um vier Uhr zweiundvierzig bog ich, zum zweiten Mal an diesem Tag, in den Eingang des Friedhofs Mt. Calvary ein. Eine lange Reihe Eukalyptusbäume warf schlanke Schatten über die Straße. Ich passierte sie wie Tore, während ich mich den Hügel hinaufschlängelte. In der Nähe des Büros fuhr ich auf einen Parkplatz und stellte den Wagen neben einem runden Rasenstück ab, in dessen Mitte ein Springbrunnen sprudelte. Zwischen weichen dunkelgrünen Algenfäden schossen Goldfische hin und her. Ich sperrte den Wagen ab. Das hohe, reich geschnitzte hölzerne Tor der nicht konfessionsgebundenen Kapelle stand offen. Der steinerne Innenraum war dunkel.
Ich ging zwischen der Doppelreihe flacher
Weitere Kostenlose Bücher