Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
sah ihre Haut ausgebleicht aus, als sei sie mit Heftpflaster verklebt gewesen. Man merkte ihr an, dass sie viel geweint und wenig geschlafen hatte. Die falschen Wimpern waren verschwunden und ihre Augen verquollen, ihr Blick geistesabwesend.
»Irene?« Sie zuckte zusammen und sah sich hastig um; ihr war nicht klar, woher das Geräusch gekommen war. Als sie mich entdeckte, stand sie mühsam auf und hielt sich dabei am Schreibtisch fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Mit zitternden Beinen kam sie ins Wohnzimmer und streckte die Hände nach mir aus wie ein Kleinkind bei seinen ersten Gehversuchen. Dabei wimmerte sie leise vor sich hin, als schmerze sie jeder Schritt. Sie klammerte sich an mich wie schon einmal, aber diesmal kam noch Verzweiflung hinzu.
»O Kinsey, Gott sei Dank! Ich bin so froh, dass Sie hier sind. Clyde musste zu einer Konferenz in die Bank, aber er hat mir versprochen, so bald wie möglich zurückzukommen.«
»Gut. Ich möchte nämlich mit ihm reden. Wie geht es Ihnen?«
»Schrecklich. Ich kann einfach nicht klar denken und ertrage es nicht, allein zu sein.«
Ich führte sie zur Couch. Ihre Hilflosigkeit machte mich tief betroffen. »Sie sehen so aus, als hätten Sie nicht viel geschlafen.«
Sie ließ sich in die Polster sinken, gab aber meine Hände nicht frei. Wie eine Betrunkene hielt sie mich gepackt, als sei sie kraftlos von ihren Exzessen, und aus ihrem Mund wehte mir Trauer entgegen wie Alkoholdunst. »Ich habe fast die ganze Nacht hier unten gesessen, weil ich Clyde nicht stören wollte. Ich habe versucht, die Papiere für Mutter auszufüllen, und dabei festgestellt, dass ich nichts von ihr weiß. Ich kann mich an nichts erinnern. Es ist unfassbar für mich. Irgendwie schäme ich mich dafür. Meine eigene Mutter...« Sie fing wieder an zu weinen.
»Schon gut. Ich kann Ihnen doch dabei helfen.« Ich hob beschwichtigend die Hand. »Bleiben Sie ganz ruhig sitzen. Entspannen Sie sich. Ist das Formular dort drin?«
Sie schien sich zusammenzureißen und nickte stumm, die Augen dankbar auf mich gerichtet, als ich in den Nebenraum ging. Ich nahm einen Füllhalter und ein zwanzig mal zwanzig Zentimeter großes quadratisches Formular vom Schreibtisch und ging ins Wohnzimmer zurück. Wie hielt Clyde nur ihre entsetzliche Abhängigkeit aus? So groß mein Mitleid auch sein mochte, es wurde überschattet von dem Gefühl, dass mir hier eine fast untragbare Last aufgebürdet wurde.
20
»Sie müssen damit umgehen wie mit Prüfungsaufgaben«, sagte ich. »Die leichten Fragen erledigen wir zuerst, dann gehen wir die schwierigen an. Fangen wir an mit >Name des / der Verstorbenen'. Hatte sie einen Mittelnamen?«
Irene schüttelte den Kopf. »Nie einen gehört.«
Ich schrieb: Agnes ... KMN ... Grey.
Irene und ich steckten die Köpfe zusammen und trugen peinlich genau die spärlichen Informationen ein, über die sie verfügte. Das dauerte kaum länger als eine Minute und beschränkte sich auf Rasse: Weiß; Geschlecht: Weiblich; Militärdienst: Nicht zutreffend; Sozialversicherungsnummer: Keine; Personenstand: Verwitwet; Beruf: Im Ruhestand; und dazu mehrere Unterrubriken unter Ständiger Wohnort. Irene wusste nicht, in welchem Jahr ihre Mutter geboren war, kannte ihren Geburtsort und die Namen ihrer Großeltern nicht. Das bedrückte sie, da ihrer Meinung nach jeder, dem an seiner Mutter auch nur ein bisschen gelegen hatte, so etwas bei der Hand haben musste.
»Machen Sie sich nicht ständig so runter, Himmel noch mal«, sagte ich. »Gehen wir das Formular noch mal durch, dann sehen wir schon, wie weit wir kommen. Vielleicht wissen Sie mehr, als Sie glauben. So haben zum Beispiel alle gesagt, sie sei dreiundachtzig, nicht wahr?«
Irene nickte unsicher und wünschte wahrscheinlich, das Formular hätte ein paar Fragen zu bieten, bei denen man die Antworten nur ankreuzen musste. Ich merkte, dass sie über ihre Unwissenheit noch immer außer sich war.
»Irene, bei diesem Test können Sie nicht durchfallen«, sagte ich energisch. »Was kann schon geschehen? Können sie sich etwa weigern, sie zu beerdigen?« Ich gab mich höchst ungern so kess, aber ich dachte, ich könnte sie vielleicht auf diese Weise ihrem Selbstmitleid entreißen.
»Ich möchte nur nichts falsch machen«, sagte sie. »Es ist wichtig, es richtig zu machen. Das ist das wenigste, was ich tun kann.«
»Das verstehe ich, aber die Welt wird auch nicht untergehen, wenn Sie eine Rubrik nicht ausfüllen. Wir wissen, dass sie
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