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Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Titel: Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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eine Spinnenphobie...«
    Automatisch hob ich die beiden Hälften der Teetasse auf und fragte mich, ob sie etwas auf ihrem Boden gesehen hatte. Fast erwartete ich, eine alte tote Spinne auf dem Rücken liegen zu sehen, die Beine vor dem Bauch zusammengerollt wie bei einer Blüte, die sich in der Abenddämmerung schließt. Aber da war nichts. Irene war jetzt keinem Trost zugänglich.
    »Die Farbe lief in grässlichen Streifen an der Wand herunter. Die Veilchen waren ruiniert, und ich hatte solche Angst... Ich hatte nicht ungehorsam sein wollen...«
    Clyde tätschelte ihr die Hand und stieß beschwichtigende Laute aus. »Irene, mit dir ist alles in Ordnung. Alles ist gut. Ich bin bei dir.«
    Ihre Augen hatten einen flehenden Ausdruck, ihre Stimme war ein gequältes Flüstern. »Es war Mutters Teeservice aus ihrer Kindheit... Ich durfte nicht damit spielen. Ich hab mich versteckt, damit ich nicht wieder Schläge bekam, so schlimme Schläge... Warum hat sie es aufgehoben?«
    »Ich bringe sie ins Bett«, sagte Clyde. Er legte einen Arm unter ihre angewinkelten Knie, den anderen hinter ihren Rücken und hob sie nicht ohne Mühe auf. Seitlich schob er sich am Couchtisch vorbei und ging dann zur Treppe. Jermaine begleitete ihn, hielt sich immer dicht bei ihm, um zur Hand zu sein, wenn seine Last zu rutschen begann. Ich ließ mich auf die Couch fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Mein Herzschlag wurde allmählich wieder normal, was gar nicht so schlecht war, wenn man den Adrenalinstoß bedachte, der durch meine Adern gepumpt worden war. Die Furcht anderer Menschen ist ansteckend, ein Phänomen, das stärker wird, wenn man nicht allein ist — deshalb sind Horrorfilme in einem vollbesetzten Kino auch von so durchschlagender Wirkung. Ich roch Tod, ein schreckliches Erlebnis, mit dem weder Agnes noch Irene fertig geworden waren, auch nach all diesen Jahren nicht. Das Ausmaß dessen, was damals geschehen war, konnte ich nur vermuten. Jetzt war Agnes tot, und ich bezweifelte, dass die Realität je wieder zu ihrem Recht kommen würde.
    Ich wurde unruhig, schaute auf meine Uhr. Es waren erst dreißig Minuten vergangen. Bestimmt kam Dietz bald zurück und holte mich. Ich blätterte in einer Zeitschrift, die auf dem Couchtisch lag. Im hinteren Teil des Heftes gab es Rezepte für einen ganzen Monat, nahrhafte, gut ausgewogene Hauptmahlzeiten, die pro Portion nur ein paar Pennys kosteten. Die Gerichte klangen schrecklich: sie hießen Tunfischüberraschung und gebratener Tofu mit süßsaurer Soße. Ich legte die Zeitschrift wieder hin. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, nahm ich die beiden Hälften der zerbrochenen Tasse, wickelte sie in Zeitungspapier und verstaute sie in der Schachtel. Ich stand auf, trug die Schachtel zur Tür und stellte sie dort ab. Irene sollte sie nicht mehr sehen. Vielleicht später einmal, wenn sie wollte; ich konnte das Service ja jederzeit zurückbringen. Ich blickte auf und sah Clyde müde die Treppe herunterkommen.

21

    Er sah aus wie ein Zombie. Ich folgte ihm, als er zu einem der beiden Lehnsessel ging und sich setzte. Er rieb sich die Augen und zwickte sich dann in den Nasensattel. Sein Hemd war zerdrückt, der feine blaue Nadelstreifen hatte Schweißflecken in den Achselhöhlen. »Ich habe ihr ein Valium gegeben. Jermaine hat gesagt, sie bleibt bei ihr, bis sie eingeschlafen ist.«
    Ich blieb stehen, wollte dadurch, dass ich ihn überragte, mögliche psychologische Vorteile nutzen. »Was ist los, Clyde? Eine solche Reaktion habe ich noch bei keinem Menschen erlebt.«
    »Irene kränkelt, seit ich sie kenne.« Er seufzte in sich hinein. »Gott — früher habe ich mir eingebildet, ihre Hilflosigkeit habe einen gewissen Charme...«
    »Das geht aber weit über Hilflosigkeit hinaus. Ihre Frau hat wahnsinnige Angst. Die hatte auch Agnes.«
    »Aber so war es schon immer. Sie reagiert auf alles überempfindlich, hat unzählige Phobien — geschlossene Räume, Spinnen, Staub. Wissen Sie, wovor sie sich fürchtet? Vor Haken und Öse an einer Tür. Sie fürchtet sich vor Usambaraveilchen. Herr im Himmel, vor Veilchen! Und es wird immer schlimmer. Sie leidet an Allergien, Depressionen, Hypochondrie. Sie ist halb tot vor Angst und wahrscheinlich abhängig von sämtlichen Medikamenten, die ihr verschrieben werden. Ich habe sie zu allen möglichen Ärzten gebracht, und sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Die Gehirnklempner sind begeistert, wenn sie kommt, verlieren aber das Interesse, wenn der

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