Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Bürgerin der Vereinigten Staaten war, also schreiben wir es rein... Den Rest können wir Ihrer Geburtsurkunde entnehmen. Darin steht auch der Geburtsort Ihrer Eltern und ihr Alter im Jahr Ihrer Geburt. Wissen Sie, wo sie ist?«
Sie nickte, schnäuzte sich die Nase und stopfte das Taschentuch wieder in die Tasche ihres Morgenmantels. »Ich bin fast sicher, sie ist in dem Aktenschrank dort drüben«, sagte sie und zeigte zur Veranda, die sie sich als kleines Büro eingerichtet hatte. »Ein Ordner mit der Aufschrift Wichtige Dokumente liegt in der obersten Schublade.«
»Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie hier. Ich hole ihn.«
Ich ging ins Nebenzimmer und zog die oberste Schublade auf. Wichtige Dokumente war ein dicker bräunlicher Ordner und lag gleich obenauf. Ich nahm ihn mit und ließ Irene darin kramen. Sie nahm einen Geburtsschein heraus, den sie mir reichte. Ich sah ihn kurz an, kniff dann die Augen zusammen und betrachtete ihn mir näher. »Das ist eine Fotokopie. Was ist aus dem Original geworden?«
»Keine Ahnung. Ich hatte noch nie einen anderen.«
»Was haben Sie gemacht, als Sie einen Reisepass beantragten? Da müssen Sie doch eine beglaubigte Abschrift gehabt haben.«
»Ich habe keinen Pass. Hab nie einen gebraucht.«
Ich sah sie erstaunt an. »Dabei hab ich gedacht, ich sei der einzige Mensch ohne Pass«, sagte ich.
Sie schien leicht in Abwehrstellung zu gehen. »Ich reise nicht gern. Ich hatte immer Angst, unterwegs krank zu werden und nicht die richtige ärztliche Hilfe zu bekommen. Wenn Clyde geschäftlich nach Übersee musste, ist er immer allein geflogen. Ist das ein Problem?« Ich vermutete, dass es zwischen Clyde und ihr deshalb schon mehr als einmal zu Auseinandersetzungen gekommen war.
»Nein, nein, die Fotokopie genügt, es kommt mir nur ein bisschen merkwürdig vor. Woher haben Sie sie?«
Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Wangen waren plötzlich rosa angehaucht, als sei sie von einer Sekunde zur anderen gesund geworden. Zuerst dachte ich, sie werde nicht antworten, dann schob sie die Unterlippe vor. »Mutter hat sie mir gegeben, als ich in die High-School ging. Es war die demütigendste Situation in unserem Zusammenleben. Wir sollten als Prüfungsarbeit in Englisch unseren Lebenslauf schreiben und mit unserem Geburtsschein anfangen. Meine Mutter konnte meinen nicht finden, und ich musste ohne ihn in die Schule gehen. Der Lehrer hat mir ein Ungenügend gegeben — das einzige, das ich je bekommen habe — , und darüber war Mutter furchtbar wütend. Es war schrecklich. Sie brachte mich am nächsten Tag in die Schule und warf meinem Lehrer den Geburtsschein buchstäblich ins Gesicht. Sie war natürlich betrunken. Alle meine Mitschüler waren dabei und gafften. Ich glaube, ich habe mich weder vorher noch nachher je wieder so geschämt.«
Ich musterte sie neugierig. »Was war mit Ihrem Vater? Wie hat er sich verhalten?«
»An ihn erinnere ich mich nicht mehr. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei oder vier war. Ein paar Jahre später ist er im Krieg gefallen. Neunzehndreiundvierzig, glaube ich.«
Ich sah den Geburtsschein an, widmete mich wieder dem Nächstliegenden. Da waren wir wirklich auf etwas gestoßen. Irene war am 12. März 1936 morgens um zwei Uhr dreißig in Brawley geboren. Ihr Vater war Herbert Grey, geboren in Arizona, weiß, zweiunddreißig Jahre alt, Schweißer bei einer Fluggesellschaft. Agnes’ Mädchenname war Branwell, geboren war sie in Kalifornien, Beruf Hausfrau.
»Na großartig«, sagte ich und las die nächste Zeile. »Oh, warten Sie, das ist irre. Hier steht, dass sie dreiundzwanzig war, als Sie geboren wurden, aber dann wäre sie — dann wäre sie ja jetzt erst siebzig? Das scheint mir nicht richtig zu sein.«
Irene beugte sich vor. »Bestimmt ein Tippfehler«, sagte sie. Sie nahm das Dokument und betrachtete die Zeile genauso erstaunt wie ich. »Das ist ein Unterschied von vielen Jahren. Wenn Mutter jetzt dreiundachtzig war, muss sie, als ich geboren wurde, sechsunddreißig gewesen sein, nicht dreiundzwanzig.«
»Vielleicht ist sie viel jünger, als wir dachten.«
»Aber nicht so viel. Sie hatte die Siebzig längst hinter sich, Sie haben sie doch gesehen.«
Ich überlegte kurz. »Meiner Meinung nach ist das ziemlich egal.«
»Aber das ist es nicht! Es geht immerhin um dreizehn Jahre mehr oder weniger.«
Ich schaltete mein Temperament aus. Es war sinnlos, gereizt zu reagieren. »Wir brauchen die Richtigkeit unserer Angaben nicht
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