Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
nachzuweisen«, sagte ich. »Das kann ich mir wenigstens nicht vorstellen. Lassen Sie die Rubrik leer.«
»Das will ich aber nicht«, sagte sie eigensinnig.
Ich hatte sie schon in dieser Stimmung erlebt und wusste, wie unnachgiebig sie sein konnte. »Machen Sie, was Sie wollen. Das ist Ihre Sache.«
Ich hörte einen Schlüssel im Schloss. Die Haustür ging auf, und Clyde kam herein; wie üblich trug er einen Anzug mit Weste. Er brachte die Schachtel mit dem Kinderservice mit, die ich auf der Veranda gelassen hatte, ging zur Couch, begrüßte mich beiläufig und stellte die Schachtel auf den Tisch. Dann bückte er sich, um Irene auf die Wange zu küssen, eine Gewohnheitsgeste ohne besondere Wärme. »Das hat auf der Veranda gestanden.«
»Es gehört Irene«, sagte ich. »Ich hab’s unter Agnes’ Wohnwagen gefunden und mit anderen Sachen in Brawley an mich abgeschickt. Es ist heute Morgen gekommen.« Ich zog die Schachtel näher heran, hob den Deckel und griff zwischen die Tassen, die noch in Zeitungspapier eingewickelt waren. »Ich hab nicht gewusst, ob das die richtige Zeit ist oder nicht, aber es ist ungefähr das Einzige, das die Eindringlinge nicht gestohlen haben.«
Ich packte eine Teetasse aus und reichte sie Irene. Der Porzellanhenkel hatte unten einen haarfeinen Sprung, aber sonst war die Tasse unversehrt und perfekt. Rosen in hellem Pink, handgemalt, auf weißem Grund und auf kindgerechte Größe verkleinert. Irene betrachtete sie ratlos, dann flackerte etwas wie Erkennen in ihren Augen auf. Ein erstickter Laut brach aus ihrem tiefsten Innern, und mit einem Aufschrei des Ekels schleuderte sie die Tasse weit von sich. Ihre Reaktion löste Angst bei mir aus. Clyde und ich fuhren vor Schreck zusammen. Irenes Entsetzensschrei schien die Luft zu versengen. Wie in Zeitlupe prallte die Tasse gegen den Rand des Couchtischs und brach dann so säuberlich entzwei, als habe man sie mit dem Messer halbiert.
Irene stand auf, die Augen riesengroß. Sie hyperventilierte — ihr Atem ging so schnell und flach, dass sie auf keinen Fall genug Sauerstoff bekommen konnte. Sie taumelte, die Augen fest auf mein Gesicht gerichtet. Im Fallen klammerte sie sich an mich, von einem Krampf gepackt, der ihren ganzen Körper schüttelte. Clyde griff nach ihr, als sie stürzte. Er bewegte sich schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, bettete sie auf die Couch und legte ihre Beine hoch.
Ein Geschirrtuch in der Hand, donnerte Jermaine ins Wohnzimmer. Sie hatte ganz große Augen vor Schreck. »Was ist los? Was ist passiert? O mein Gott...«
Von Irenes Augen war nur noch das Weiße zu sehen, und sie zuckte immer wieder, von einem inneren Erdbeben erschüttert, das ihre zarte Gestalt wie mit wellenförmigen Stromstößen folterte. In der Luft hing der beißende Geruch von Urin. Clyde zog das Jackett aus, kniete neben Irene nieder und versuchte sie festzuhalten, damit sie sich nicht verletzte. Jermaine stand wie hypnotisiert daneben, drehte das Geschirrtuch in den großen dunklen Händen zu einem Strick zusammen und stieß angstvolle Laute aus, die tief aus ihrer Kehle kamen.
Allmählich löste sich der Krampf. Irene begann zu husten, so trocken und keuchend, dass es mir wehtat. Auf den Husten folgte ein hohes Pfeifen, das mir half, meine Erstarrung abzuschütteln. Ich legte stützend die Hand unter Irenes rechten Arm und warf Clyde einen Blick zu. »Setzen wir sie aufrecht hin, dann kann sie leichter atmen.«
Wir richteten sie auf, was sich als erstaunlich schwierig erwies, wenn man bedachte, wie leicht sie war. Sie konnte kaum mehr als neunzig Pfund wiegen, aber sie war schlaff und völlig benommen, und ihre Blicke irrten von einem Gesicht zum anderen, ohne etwas zu erfassen. Es war klar, dass sie nicht wusste, wo sie war oder was geschah.
»Soll ich den Notarzt rufen, Mr. Clyde?«, fragte Jermaine.
»Noch nicht«, sagte er. »Warten wir noch damit. Sie scheint zu sich zu kommen.«
Ein feiner Schweißfilm bedeckte Irenes Gesicht. Sie griff blindlings nach mir. Ihre Hände fühlten sich so klamm an wie ein noch lebender Fisch auf dem Boden eines Bootes.
Jermaine ging hinaus und kam ein paar Minuten später mit einem kalten, feuchten Tuch wieder, das sie Clyde reichte. Er wischte Irene das Gesicht ab. Sie begann leise vor sich hin zu weinen, hoffnungslos wie ein Kind, als erwache sie aus einem schrecklichen Albtraum. »Da waren Spinnen, ich habe den Staub gerochen...«
Clyde sah mich an. »Sie hat schon seit jeher
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