Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
alte Voodoozauber nicht wirkt. Sie will nicht gesund werden, glauben Sie mir. Sie hängt leidenschaftlich an ihren Symptomen. Ich versuche Mitleid zu empfinden, doch was ich fühle, sind Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Mein Leben ist ein Albtraum, aber was kann ich tun? Mich von ihr scheiden lassen? Unmöglich. Wenn ich das täte, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen. Sie ist wie ein kleines Kind... Ich habe immer gedacht, wenn Agnes einmal nicht mehr da wäre, würde es mit ihr besser werden. Wie die Erlösung von einem Fluch. Aber es wird so nicht kommen.«
»Haben Sie eine Ahnung, was es ist?«
Er schüttelte den Kopf. Er wirkte so hoffnungslos wie eine von einer Katze gehetzte Ratte.
»Was ist mit ihrem Vater? Könnte es mit ihm zusammenhängen? Sie hat gesagt, er sei im Krieg gefallen...«
»Ich weiß genauso viel oder so wenig wie Sie«, sagte er wehmütig. »Irene hat mich wahrscheinlich seinetwegen geheiratet...«
»Weil sie sich nach einem Vater sehnte?«
»Aber natürlich. Sie sehnt sich nach allem — nach Trost, Schutz, Sicherheit. Wissen Sie, was ich mir wünsche? Ich möchte nur eine einzige Woche ohne Drama erleben — sieben Tage ohne Tränen und Aufruhr und Abhängigkeit und Gebrauchtwerden und ohne dass die letzte Lebenskraft aus mir herausgesaugt wird.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Doch dazu wird es mein Lebtag nicht kommen. Ich kann mir genauso gut eine Kugel durch den Kopf schießen, dann hätte ich Ruhe.«
»Sie muss irgendein Kindheitstrauma mit sich herumschleppen...«
»Wen schert das denn noch? Nach vierzig Jahren! Man wird der Sache nie auf den Grund kommen, und was würde sich ändern, wenn es einem gelänge? Sie ist, wie sie ist, und ich sitze fest.«
»Warum retten Sie sich nicht?«
»Irene verlassen? Wie sollte ich das wohl anfangen? Jedes Mal wenn ich auch nur daran denke, liegt sie sofort flach. Ich kann ihr keinen Fußtritt verpassen, wenn sie ohnehin schon am Boden ist...«
Es klopfte am Vorderfenster. Dietz schaute herein, und ich atmete tief auf. Noch nie war ich so erleichtert gewesen, jemanden zu sehen.
»Ich mach das schon«, sagte ich und ging zur Haustür. Dietz kam herein und schaute zu Clyde hinüber, der mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen dasaß. Er stellte sich tot. Seit Dietz gekommen war, ließ die Spannung, die in der Luft hing, merklich nach, aber er sah auf den ersten Blick, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich zog leicht die Brauen hoch und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass ich ihm alles erklären würde, sobald wir allein waren.
»Na, wie war’s?«, fragte ich.
»Ich erzähl es dir gleich. Komm, lass uns gehen.«
Ich sagte: »Clyde...«
»Ich hab’s gehört. Gehen Sie nur. Wir können später miteinander reden. Irene wird ein paar Stunden schlafen. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn ich mich auch ein bisschen aufs Ohr legen würde.«
Ich zögerte. »Eine Frage. Als wir gestern bei den Nachbarn nach Agnes fragten — erinnern Sie sich an ein Haus mit einem Geräteschuppen oder einem Gewächshaus im Garten?«
Er schlug die Augen auf und sah mich an. »Nein. Warum?«
»Die Pathologin hat sich dafür interessiert. Ich habe ihr versprochen, mich umzuhören und ihr Bescheid zu sagen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nur an Haustüren geklopft. In irgendeinem Hinterhof könnte sehr gut ein Schuppen gestanden haben.«
»Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Ihnen etwas einfällt, ja?«
Seine Geste war zugleich Entlassung und resignierte Zustimmung.
Ich hob die Schachtel auf und ging mit Dietz zum Wagen. Er half mir auf den Beifahrersitz.
»Was war los? Hat ihr das Teeservice nicht gefallen?«, sagte er, knallte aber gleichzeitig die Beifahrertür zu, und ich war gezwungen, mit meiner Antwort zu warten, bis er um den Wagen herumgekommen und selbst eingestiegen war. Er ließ den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein. Ich schilderte ihm kurz Irenes Zusammenbruch.
»Was fehlt ihr, deiner Ansicht nach?«, fragte er, als ich fertig war.
»Keinen Schimmer. Es gibt da natürlich verschiedene Möglichkeiten. Sie kann missbraucht worden sein, zum Beispiel. Oder vielleicht war sie Zeugin bei einer Gewalttat, vielleicht aber hat sie selbst etwas getan und fühlt sich jetzt schuldig.«
»Als kleines Kind?«
»He, Kinder tun manchmal etwas Unüberlegtes. Man kann nie wissen. Doch was es auch sein mag — falls sie sich überhaupt daran erinnert, hat sie nie mit mir darüber gesprochen. Und Clyde scheint
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