Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Renatas Existenz gewußt hatte, und sie schien an seiner gänzlich desinteressiert zu sein. Ich hatte den Verdacht, Renata hätte Brians Versteck verraten, wenn es ihr bekannt gewesen wäre. Wütend genug dazu war sie infolge von Wendell Jaffes Verschwinden.
Eigentlich konnte Jaffe seinen Sohn nur in einem Hotel oder Motel untergebracht haben. Und wenn es ihm möglich war, Brian täglich zu sehen, konnte das Versteck nicht weit sein. Wenn Brian über längere Zeiträume sich selbst überlassen war, mußte er die Möglichkeit haben, sich zu versorgen, ohne sich den Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen. Vielleicht ein Motelzimmer mit Kochnische, so daß er für sich selbst kochen konnte. Groß? Klein? Es gab vielleicht fünfzehn bis zwanzig Motels in der näheren Umgebung. Würde ich da vielleicht hinfahren und sie alle abklappern müssen? Eine wenig verlockende Aussicht. Andererseits war Brian für mich die einzige Möglichkeit, an Wendell Jaffe heranzukommen. Bisher hatte die Dispatch sich noch nicht um Brians Entlassung gekümmert, aber wenn erst einmal Fotos von Vater und Sohn in den Zeitungen erschienen, würde sich die Situation rasch zuspitzen. Brian hatte vielleicht Taschengeld, aber er verfügte sicher nicht über unbeschränkte Mittel. Wenn Jaffe entschlossen war, seinen Sohn zu retten, dann mußte er schnell handeln. Und ich auch.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war Viertel nach sechs. Ich stand vom Boden auf und schaltete den Anrufbeantworter ein, dann suchte ich die Zeitungsausschnitte heraus, in denen über den Gefängnisausbruch berichtet wurde. Das Foto von Brian Jaffe war nicht schmeichelhaft, aber für meine Zwecke war es gut genug. Ich nahm meine Reiseschreibmaschine und meine Handtasche und ging.
Zuerst fuhr ich zum Jachthafen. Es konnte ja sein, daß Carl Eckert inzwischen wieder da war und niemand sich die Mühe gemacht hatte, mich zu benachrichtigen. Außerdem lockte mich die kleine Imbißbude am Hafen, wo ich mir ein paar Burritos für unterwegs mitnehmen wollte.
Auf dem kleinen kostenlosen Parkplatz war nichts mehr frei. Ich mußte durch die Schranke auf den großen Parkplatz, auf dem jede Stunde Geld kostete. Ich sperrte meinen Wagen ab und warf einen Blick nach links, als ich am Kiosk vorüberkam. Da sah ich Carl Eckert. Er saß in seinem Wagen, einem schnittigen kleinen Flitzer exotischen Modells. Er sah aus, als sei er im Schock, bleich und schweißfeucht im Gesicht. Verwirrt blickte er sich um. Er trug einen smarten dunkelblauen Anzug, aber er hatte den Schlips gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet. Sein graues Haar war zerzaust, als hätte er sich die Haare gerauft.
Ich ging langsam und beobachtete ihn dabei. Er schien sich nicht entscheiden zu können, was er tun sollte. Ich sah, wie er nach seinen Wagenschlüsseln griff, als wollte er den Motor anlassen. Dann zog er die Hand zurück, griff in seine Hosentasche, zog ein Taschentuch heraus, mit dem er sich Gesicht und Hals wischte. Er steckte das Taschentuch wieder ein, griff in eine andere Tasche und brachte eine Packung Zigaretten zum Vorschein. Er schüttelte eine Zigarette heraus und drückte auf den Zigarettenanzünder im Armaturenbrett.
Ich ging zu dem offenen Sportwagen und beugte mich zu Eckert hinunter. »Carl? Kinsey Millhone.«
Er drehte sich um und starrte mich verständnislos an.
»Wir haben uns neulich im Jachtclub miteinander unterhalten. Ich war auf der Suche nach Wendell Jaffe.«
»Richtig. Die Privatdetektivin«, sagte er endlich.
»Genau.«
»Tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe, aber ich habe eben eine schlechte Nachricht bekommen.«
»Ich habe das mit der Lord schon gehört. Kann ich irgendwas tun?«
Der Anzünder sprang heraus. Er zündete sich die Zigarette an. Seine Hände zitterten so stark, daß er kaum Anzünder und Zigarettenende zusammenbrachte. Er sog den Rauch tief ein und verschluckte sich in seiner Gier.
»Das Schwein hat mir mein Boot gestohlen«, sagte er heftig hustend. Er wollte noch mehr sagen, aber er brach plötzlich ab und drehte den Kopf zur Seite. Ich sah Feuchtigkeit in seinen Augen, konnte aber nicht sagen, ob das von dem Hustenanfall kam oder ob es Tränen über den Verlust seines Boots waren.
»Alles in Ordnung?« fragte ich.
»Ich lebe auf dem Boot. Die Lord ist alles, was ich habe. Mein Leben. Das muß er gewußt haben. Er hat das Boot genauso geliebt wie ich.« Ungläubig schüttelte er den Kopf.
»Das ist eine schlimme Sache«, sagte
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