Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
ich mich meldete, konnte ich jemanden atmen hören, und einen Herzschlag lang glaubte ich, Wendell Jaffe sei am Apparat.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich und dachte, bitte, bitte, bitte, laß es ihn sein.
»Hier spricht Brian Jaffe.«
»Ach. Ich dachte, es sei vielleicht Ihr Vater. Haben Sie von ihm gehört?«
»Nein. Deswegen rufe ich an. Wissen Sie was?«
»Nein, auch nicht.«
»Michael hat gesagt, der Wagen, mit dem Dad zu ihm gekommen ist, steht immer noch vor seinem Haus.«
»Das Auto ist nicht angesprungen, deshalb habe ich ihn gestern abend mitgenommen. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Vorgestern. Er kam nachmittags vorbei, und wir haben geredet. Er wollte gestern abend wieder kommen, aber er kam nicht.«
»Vielleicht hat er es versucht«, sagte ich. »Irgend jemand hat auf uns geschossen, und da ist er verschwunden. Heute morgen sahen wir dann, daß die Lord weg ist.«
»Das Boot?«
»Ja. Es ist dasselbe Boot, mit dem Ihr Vater damals verschwunden ist.«
»Dad hat ein Boot gestohlen?«
»Es sieht so aus, aber sicher ist im Moment gar nichts. Vielleicht sah er das als einzige Möglichkeit zu verschwinden. Er muß geglaubt haben, daß er in echter Gefahr ist.«
»Klar, wenn auf einen geschossen wird«, sagte Brian spöttisch.
In der Hoffnung, mich ein bißchen bei ihm einzuschmeicheln, erzählte ich ihm Näheres. Beinahe hätte ich Renata erwähnt, aber ich schluckte ihren Namen gerade noch hinunter. Wenn Michael nichts von ihr gewußt hatte, dann wußte Brian wahrscheinlich auch nichts. Verdreht wie ich bin, hatte ich mal wieder das Gefühl, den >Schurken< des Stücks in Schutz nehmen zu müssen. Vielleicht würde Jaffe eine Sinneswandlung durchmachen und das Boot zurückbringen. Vielleicht würde er Brian überreden, sich mit ihm zusammen der Polizei zu stellen. Vielleicht würde der Osterhase mir ein großes Osterei mit einem Guckloch bringen, durch das man in eine bessere Welt sehen kann.
Brian schnaufte wieder ein Weilchen in mein Ohr. Ich wartete. »Michael hat gesagt, Dad hätte eine Freundin. Ist das wahr?«
»Äh — ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Er ist zusammen mit einer Bekannten gereist, aber ich weiß wirklich nicht, welcher Art ihre Beziehung ist.«
»Na klar.« Er prustete ungläubig. Ich hatte vergessen, daß er achtzehn Jahre alt war und über Sex wahrscheinlich mehr wußte als ich. Über Gewalt wußte er auf jeden Fall mehr. Wieso bildete ich mir ein, ich könnte einem solchen Jungen etwas vormachen?
»Möchten Sie Renatas Nummer haben? Sie hat vielleicht von ihm gehört?«
»Ich hab’ eine Nummer, wo ich anrufen soll, aber da meldet sich nur der Anrufbeantworter. Wenn Dad da ist, ruft er zurück. Ist das dieselbe Nummer, die Sie haben?« Er gab mir Renatas nicht eingetragene Nummer an.
»Ja, das ist sie. Brian, sagen Sie mir doch, wo Sie jetzt sind. Dann komme ich zu Ihnen, und wir können miteinander reden. Vielleicht finden wir gemeinsam heraus, wo er ist.«
Er ließ sich das durch den Kopf gehen. »Er hat gesagt, ich soll auf ihn warten und mit niemandem reden, bis er kommt. Er ist wahrscheinlich schon unterwegs.« Er sagte es ohne Überzeugung, in einem Ton voller Unbehagen.
»Ja, das ist natürlich möglich«, stimmte ich zu. »Was ist denn geplant?« Als würde Brian ausgerechnet mir das verraten.
»Ich muß Schluß machen.«
»Warten Sie! Brian?«
Ich hörte es knacken, als er auflegte.
»Verdammter Mist!« Ich setzte mich und starrte das Telefon an, als könnte ich es zwingen, wieder zu läuten. »Komm schon. Los, komm!«
Ich wußte genau, daß der Junge nicht wieder anrufen würde. Ich wurde mir der Spannung bewußt, die meine Schultern verkrampfte. Ich stand auf und ging um den Schreibtisch herum, suchte mir ein freies Stück Teppich, auf dem ich mich ausstrecken konnte. Die Zimmerdecke hatte mir nichts mitzuteilen. Ich hasse es, darauf zu warten, daß sich etwas ereignet, und ich hasse es genauso, von den Umständen abhängig zu sein. Vielleicht konnte ich mit logischer Überlegung dahinterkommen, wo Brian versteckt war. Wendell Jaffe hatte wenig Möglichkeiten. Er hatte kaum Freunde und, soviel ich wußte, keine Verbündeten. Er war außerdem sehr verschwiegen, hatte nicht einmal Renata Brians Versteck anvertraut. Die Fugitive wäre ein ideales Versteck gewesen, aber Renata und Brian hätten ungewöhnlich begabte Lügner sein müssen, um mich so zu täuschen. Ich hatte den Eindruck, daß er bis zu diesem Tag wirklich nichts von
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