Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Gefühl, sie hätte was falsch gemacht, als sie mit dir gesprochen hat. Sie dachte, ich könnte vielleicht die Wogen ein bißchen glätten.«
»Das ist gar nicht nötig. Liz hat alles sehr gut gemacht«, erwiderte ich. Ich wahrte Abstand, und ich bin sicher, sie hat es gespürt. Sie gab mir die Adresse an und beschrieb mir den Weg. Ich notierte alles gewissenhaft auf einen Zettel, den ich schon jetzt am liebsten in den Papierkorb geworfen hätte. Ich fing an, mich in dem unverbindlichen Ton, der sagt, okay, danke, war nett, mit Ihnen zu sprechen, zu verabschieden.
Tasha sagte: »Hoffentlich findest du die Bemerkung nicht zu persönlich, aber ich habe den Eindruck, dir liegt gar nichts daran, die Beziehungen zur Familie zu festigen.«
»Ich finde das keineswegs zu persönlich«, sagte ich. »Ich versuche nur gerade, all das Neue zu verarbeiten. Ich weiß wirklich noch nicht, was ich damit anfangen will.«
»Bist du Grand böse?«
»Natürlich bin ich ihr böse. Warum sollte ich es nicht sein? Sie hat meine Mutter rausgeworfen. Dieses Zerwürfnis muß zwanzig Jahre gedauert haben.«
»Aber das war nicht nur Grands Schuld. Zu jedem Streit gehören zwei.«
»Richtig«, bestätigte ich. »Wenigstens war meine Mutter auf dem Weg, Abbitte zu leisten. Aber was hat Grand je getan? Sie hat dagesessen und Däumchen gedreht, was sie, wie ich feststelle, immer noch tut.«
»Was soll das heißen?«
»Na ja, wo war sie denn in all den Jahren. Ich bin mittlerweile vierunddreißig. Bis gestern wußte ich nicht einmal, daß sie existiert. Sie hätte doch mit mir Verbindung aufnehmen können.«
»Sie wußte nicht, wo du bist.«
»Quatsch! Liza hat mir erzählt, alle hätten gewußt, daß wir hier wohnten. In den letzten fünfundzwanzig Jahren war ich nur eine Stunde entfernt.«
»Ich will mich darüber nicht mit dir streiten, aber ich glaube wirklich, daß Grand das nicht wußte.«
»Was glaubte sie denn? Daß mich die Bären gefressen hätten? Sie hätte einen Detektiv beauftragen können, wenn es ihr wichtig gewesen wäre.«
»Ja, ich verstehe dich, und mir tut das alles leid. Wir haben nicht mit dir Kontakt aufgenommen, um dir Schmerz zu verursachen.«
»Warum dann?«
»Wir hofften, daß sich eine Beziehung entwickeln würde. Wir dachten, es sei genug Zeit vergangen, und die alten Wunden seien verheilt.«
»Diese >alten Wunden< sind mir völlig neu. Ich habe gestern das erste Mal von dem ganzen Mist gehört.«
»Ja, du hast natürlich ein Recht auf deine Gefühle, aber Grand wird nicht ewig leben, weißt du. Sie ist jetzt siebenundachtzig und nicht bei bester Gesundheit. Jetzt hast du noch die Chance, dich an der Beziehung zu freuen.«
»Moment mal. Sie hat die Chance, sich an der Beziehung zu freuen. Ich bin nicht sicher, daß ich mich daran freuen würde.«
»Willst du es dir nicht wenigstens überlegen?«
»Aber sicher.«
»Hast du was dagegen, wenn ich ihr erzähle, daß wir miteinander gesprochen haben?«
»Ich wüßte nicht, wie ich es verhindern sollte.«
Einen Moment blieb es still. »Bist du wirklich so unversöhnlich?«
»Absolut. Wieso nicht? Genau wie Grand«, sagte ich. »Sie wird das sicher zu würdigen wissen.«
»Ach, so ist das«, sagte sie kühl.
»Hör zu, das ist alles nicht deine Schuld, und ich will meinen Zorn auch gar nicht an euch auslassen. Aber ihr müßt mir ein bißchen Zeit lassen. Ich habe mich mit der Tatsache ausgesöhnt, daß ich allein bin. Ich mag mein Leben so, wie es ist, und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich eine Veränderung will.«
»Wir verlangen von dir doch gar nicht, daß du dich änderst.«
»Dann solltet ihr euch am besten daran gewöhnen, mich so zu nehmen, wie ich bin«, sagte ich.
Sie lachte, und irgendwie half das. Als wir uns voneinander verabschiedeten, waren wir etwas herzlicher. Ich sagte alles, was sich gehörte, und als ich auflegte, war ein Teil meiner Verdrossenheit schon verflogen. So oft folgt der Inhalt der Form. Es ist nicht nur so, daß wir zu den Leuten nett sind, die wir mögen... wir mögen die Leute, zu denen wir nett sind. Es gilt das eine wie das andere. Das ist bei den sogenannten guten Manieren vermutlich der springende Punkt. Jedenfalls hat meine Tante das immer behauptet. Dennoch wußte ich, daß ich in nächster Zeit nicht nach Lompoc fahren würde.
Ich ging über den Flur in die Toilette, und als ich in mein Zimmer zurückkam, läutete das Telefon. Ich stürzte zum Schreibtisch und hob ab, noch ehe ich um ihn herum war. Als
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