Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Schutz zu nehmen, aber er ist nicht nur schlecht. Man muß sich das nehmen, was man kriegt. Eines Tages werden Sie vielleicht das Gute wieder zulassen. Sie kennen ja gar nicht die ganze Geschichte. Sie kennen nur diese eine Version. Es spielt viel mehr mit — Ereignisse, Träume, Konflikte, Gespräche — , an dem Sie nie Anteil hatten. Und dem entspringt sein Handeln«, sagte ich. »Sie müssen die Tatsache akzeptieren, daß da etwas Größeres gewirkt hat und Sie vielleicht nie erfahren werden, was es war.«
»Soll ich Ihnen mal was sagen? Es ist mir egal. Wirklich, es ist mir egal.«
»Vielleicht. Aber Brendan wird es vielleicht eines Tages nicht egal sein. Solche Dinge haben eine Art, von einer Generation auf die nächste zu wirken. Niemand kann mit Verlassenwerden gut umgehen.«
»Hm.«
»In solcher Situation wie dieser hier geht mir immer eine Phrase durch den Kopf: >Das weite unordentliche Meer der Wahrheit.«:«
»Und was soll das heißen?«
»Die Wahrheit ist nicht immer angenehm. Sie ist nicht immer so klein, daß man sie auf einmal aufnehmen kann. Manchmal überflutet einen die Wahrheit und droht einen mit sich hinunterzuziehen. Ich habe viel Häßliches in dieser Welt gesehen.«
»Kann schon sein. Ich nicht. Das hier ist das erste Mal, und es gefällt mir nicht besonders.«
»Ich verstehe Sie«, sagte ich. »Denken Sie an Ihren Sohn. Er ist wirklich entzückend.«
»Er ist das einzig Gute, was dabei herausgekommen ist.«
Ich mußte lächeln. »Sie sind doch auch noch da.«
Sein Blick war verschlossen und sein Lächeln unergründlich, aber ich glaube nicht, daß meine Bemerkung an ihm vorbeiging.
Von Dana fuhr ich zu Renata. Welcher Art Wendell Jaffes charakterliche Mängel auch sein mochten, er hatte es fertiggebracht, mit zwei Frauen von Format eine Beziehung aufzunehmen. Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können — Dana mit ihrer kühlen Eleganz, Renata dunkel und exotisch. Ich parkte vor dem Haus und ging den Weg hinauf. Wenn die Polizei die Frau noch überwachte, geschah das sehr unauffällig. Keine Lieferwagen, keine Kleinbusse, keine sich bewegenden Vorhänge in den Häusern gegenüber. Ich läutete und wartete. Als sich nichts rührte, spähte ich durch das Glas neben der Wohnungstür. Dann läutete ich noch einmal.
Endlich kam Renata aus dem hinteren Teil des Hauses. Sie hatte einen weißen Baumwollrock an und ein königsblaues T-Shirt, dazu weiße Sandalen, die den tiefen Oliveton ihrer Beine zur Geltung brachten. Sie zog die Tür auf und blieb einen Moment stehen, die Wange an das Holz gedrückt. »Hallo. Ich habe im Radio gehört, daß das Boot gefunden worden ist. Er ist doch nicht wirklich weg, oder?«
»Ich weiß es nicht, Renata. Kann ich hereinkommen?«
Sie hielt mir die Tür auf. »Bitte.«
Wir gingen ins Wohnzimmer, das nach hinten hinaus lag. Fenstertüren öffneten sich zu einer kleinen Terrasse. Dahinter fiel das Grundstück sanft zum Wasser ab. Ich konnte die Fugitive sehen, die an ihrem Steg vertäut war.
»Möchten Sie auch eine Bloody Mary? Ich wollte mir gerade eine machen.« Sie ging zur Bar und öffnete den Deckel eines Eiskübels. Mit einer silbernen Zange nahm sie Eiswürfel heraus und ließ sie klirrend in ihr Glas fallen. Ich wäre immer gern die Art von Frau gewesen, die das tat.
»Danke. Es ist noch ein bißchen früh für mich.«
Sie drückte eine Limette über dem Eis aus und gab Wodka dazu. Aus dem Minikühlschrank nahm sie einen Krug mit Bloody-Mary-Mix und goß das Zeug über den Wodka. Ihre Bewegungen wirkten apathisch. Sie sah schlecht aus. Sie war kaum geschminkt, und man konnte sehen, daß sie geweint hatte. Sie sah mich mit einem gequälten Lächeln an.
»Und was verschafft mir die Ehre?«
»Ich war bei Dana. Und da ich schon mal in Perdido war, dachte ich mir, ich könnte Sie fragen, ob ich vielleicht Wendells Sachen durchsehen darf. Ich denke dauernd, er hat vielleicht was vergessen. Es könnte ja sein, daß er etwas dagelassen hat, was uns weiterhilft.«
»Es gibt keine >Sachen<, aber Sie können sich gern umsehen, wenn Sie möchten. Hat die Polizei das Boot schon durchsucht?«
»Ich weiß nur das, was ich heute morgen bei der Versicherungsgesellschaft gehört habe. Man hat das Boot gefunden, aber von Wendell offenbar keine Spur. Wie es mit dem Geld steht, weiß ich noch nicht.«
Mit ihrem Drink setzte sie sich in einen tiefen Sessel und forderte mich mit einer Handbewegung auf, ebenfalls Platz zu nehmen. »Was für
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