Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Lieber Himmel, wenn ihr erst aufging, daß die California Fidelity die Versicherungssumme zurückverlangen würde, falls Wendell Jaffe tatsächlich am Leben war!
Diesen Gedanken hätte ich gar nicht zulassen dürfen. Kaum nämlich kam er mir in den Kopf, sprach sie ihn schon an, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»Moment mal! Sagen Sie nichts. Ich habe soeben eine halbe Million Dollar kassiert. Ich hoffe, die Versicherungsgesellschaft glaubt nicht, daß ich das Geld zurückgeben werde.«
»Darüber müssen Sie mit den Leuten selbst sprechen. Im allgemeinen zahlen sie nicht, wenn der Versicherungsnehmer in Wirklichkeit gar nicht tot ist. Sie sind da ein bißchen pingelig.«
»Ach, verdammt noch mal! Wenn er lebt — was ich nicht eine Sekunde lang glaube — , wenn sich herausstellen sollte, daß er tatsächlich am Leben ist, dann kann ich doch nichts dafür.«
»Na ja, die Versicherung kann auch nichts dafür.«
»Ich habe Jahre auf dieses Geld gewartet. Ich wäre völlig pleite. Sie haben ja keine Ahnung, wie ich zu kämpfen hatte. Ich mußte zwei Jungen großziehen, ganz ohne Hilfe.«
»Sie täten wahrscheinlich gut daran, mit einem Anwalt zu sprechen«, meinte ich.
Mit einem Anwalt? Wozu denn? Ich habe nichts verbrochen. Ich habe wegen Wendell genug gelitten, und wenn Sie auch nur eine Minute glauben, ich gebe das Geld zurück, dann sind Sie verrückt. Wenn Sie das Geld haben wollen, müssen Sie schon zu ihm gehen.«
»Mrs. Jaffe, ich habe nichts für die California Fidelity zu entscheiden. Ich stelle lediglich Nachforschungen an und erstatte der Versicherung Bericht. Ich habe keinerlei Kontrolle darüber, was dann geschieht —«
»Ich habe nicht betrogen«, unterbrach sie mich.
»Niemand hat Sie des Betrugs beschuldigt.«
Sie legte eine Hand muschelförmig um ihr Ohr. »Noch nicht«, sagte sie. »Höre ich da nicht als Nachsatz ein dickes, fettes >Noch nicht«
»Sie hören falsch. Ich sage schlicht und einfach: Besprechen Sie die Angelegenheit mit den Versicherungsleuten. Ich bin nur hergekommen, weil ich fand, Sie sollten wissen, was vorgeht. Wenn Ihr Mann versuchen sollte, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen —«
»Du meine Güte! Hören Sie doch auf! Welchen Grund sollte er haben, mit mir Verbindung aufzunehmen?«
»Möglicherweise weil er in sämtlichen mexikanischen Zeitungen von Brians Eskapaden gelesen hat.«
Das brachte sie erst einmal zum Schweigen. Sie sah mich mit dem panischen Blick einer Frau an, die auf einem Bahnübergang einen Zug auf sich zurasen sieht und ihren Wagen nicht in Gang bringen kann. Ihre Stimme wurde leise. »Ich kann mich damit jetzt nicht befassen. Tut mir leid, aber für mich ist das alles blanker Unsinn. Ich muß Sie bitten zu gehen.« Sie stand auf, und ich folgte ihrem Beispiel.
»Mama?«
Dana fuhr zusammen.
Ihr ältester Sohn, Michael, kam die Treppe herunter. Als er uns sah, blieb er stehen. »Oh, entschuldige. Ich wußte nicht, daß du Besuch hast.« Er war groß und schlank mit dunklem seidigen Haar, dem ein Schnitt gut getan hätte. Sein Gesicht war schmal, beinahe hübsch, mit großen dunklen Augen, die von langen Wimpern umkränzt waren. Er trug Jeans, ein Sweatshirt mit dem Emblem eines Colleges und Basketballstiefel.
Dana lächelte strahlend, um ihn von ihrer Verzweiflung nichts merken zu lassen. »Wir sind gerade fertig geworden. Was ist denn, Michael? Wollt ihr etwas zu essen?«
»Ich möchte schnell was einkaufen. Juliet braucht Zigaretten und die Pampers für das Baby werden auch knapp. Ich wollte dich fragen, ob du etwas brauchst.«
»Ja, du könntest mir Milch mitbringen. Wir haben fast keine mehr«, antwortete sie. »Nimm die entrahmte Milch und bring gleich noch einen Orangensaft mit, ja? Auf dem Küchentisch liegt Geld.«
»Geld hab’ ich«, sagte er.
»Das behalt mal schön, Schatz. Ich hole es.« Sie ging zur Küche. Michael kam die restlichen Stufen herunter und nahm seine Jacke vom Treppenpfosten, an dem er sie aufgehängt hatte. Er nickte mir scheu zu. Vielleicht hielt er mich für eine Kundin seiner Mutter. Obwohl ich zweimal verheiratet war, habe ich nie eine große Hochzeit gefeiert. Am nächsten kam ich diesem Traum aller jungen Mädchen, als ich einmal zu Halloween als Frankensteins Braut ging. Ich war damals in der zweiten Klasse. Ich hatte Vampirzähne und war vollgeschmiert mit künstlichem Blut. Meine Tante hatte mir ziemlich ungeschickt schwarze Nähte ins Gesicht gemalt. Mein Hochzeitsschleier war mit zahllosen
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