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Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Titel: Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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verschwand. Sie hatte nicht gesagt, ich dürfe ihr nicht folgen. Zwei Stufen auf einmal nehmend sprang ich die Treppe hinauf, blickte nach rechts und sah das leere Zimmer, in dem offenbar Michael und seine Frau bis zu diesem Tag gehaust hatten. Vor der Tür stand ein Staubsauger mit ordentlich aufgerolltem Kabel. Ich vermutete, daß Dana ihn dorthin gestellt hatte, in der Hoffnung, daß jemand den Wink verstehen und das Zimmer reinigen würden, wenn es ausgeräumt war. Aber die stillschweigende Aufforderung war offensichtlich ohne Reaktion geblieben. Sie stand in der Mitte des Zimmers, sah sich um und überlegte — wieder eine Vermutung von mir — , wo sie mit den Aufräumungsarbeiten beginnen sollte. Ich trat leise ins Zimmer und blieb an den Türpfosten gelehnt stehen, um die Waffenruhe zwischen uns möglichst nicht zu stören.
    Ohne eine Spur der früheren Feindseligkeit drehte sie sich nach mir um. »Haben Sie Kinder?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »So sieht es aus, wenn sie aus dem Haus gehen«, sagte sie.
    Das Zimmer wirkte traurig und leer. Auf dem Teppich, wo das Bett gestanden hatte, war ein großes reines Rechteck. Überall lagen Kleiderbügel herum, der Papierkorb quoll über. An den Rändern des Spannteppichs lagen Flusen. An der Wand lehnte ein Besen, eine kleine Schaufel lag neben ihm. Auf dem Fensterbrett war ein Aschenbecher mit einem Berg von Asche und Stummeln, auf dem eine leere Marlboropackung schwebte. Die Bilder waren abgenommen und hatten hellere Stellen auf der Wand hinterlassen. Auch die Vorhänge waren weg. Auf den Fensterscheiben lag ein grauer Film von Zigarettenrauch, sie waren vermutlich nicht mehr geputzt worden, seit die »Kinder« eingezogen waren. Juliet hatte mir, auch wenn ich sie nur aus der Ferne gesehen hatte, nicht den Eindruck einer Frau Saubermann gemacht. Das Putzen war Mutters Job, und ich konnte mir vorstellen, daß Dana im Ingrimm zupacken würde, sobald ich mich endlich verdrückte.
    »Kann ich mal das Badezimmer benutzen?« fragte ich.
    »Bitte.« Sie nahm den Besen und stocherte den Staub aus den Ecken, und während sie die letzten Überreste von Michaels Anwesenheit vernichtete, ging ich ins Badezimmer. Die Handtücher und die Badematte waren weg. Die Tür des Apothekerschränkchens stand offen, seine Borde waren leer bis auf einen Hustensaftfleck auf dem untersten. Der ganze Raum wirkte kahl. Ich benutzte das letzte Fetzchen Toilettenpapier und wusch mir dann die Hände ohne Seife, trocknete sie an meinen Jeans ab. Sogar die Glühbirne war herausgeschraubt worden.
    Ich ging wieder ins andere Zimmer und fragte mich, ob ich helfen sollte. Aber ich sah nirgends ein Staubtuch oder einen Schwamm oder sonst irgend etwas, das zum Putzen zu gebrauchen war. Dana attackierte den Staub, als hätte die Arbeit therapeutische Wirkung.
    »Wie geht es Brian? Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
    »Er hat mich gestern abend angerufen, nachdem die Aufnahmeformalitäten erledigt waren. Sein Anwalt war bei ihm, aber ich weiß eigentlich nicht, was sie besprochen haben. Anscheinend hat es irgendwelche Probleme gegeben, als er hergebracht wurde, und sie haben ihn in Einzelhaft gesteckt.«
    »Wirklich?« sagte ich. Sie fegte mit dem Besen den Teppich ab. »Wie ist es soweit gekommen, Dana? Was ist mit ihm passiert?«
    Zuerst glaubte ich, sie würde mir gar nicht antworten. Kleine Staubwölkchen stiegen von den Teppichrändern auf. Als sie um das Zimmer herum war, stellte sie den Besen weg und nahm sich eine Zigarette. Sie zündete sie an und ließ meine Frage erst einmal unbeantwortet. Dann lächelte sie bitter. »Es fing mit Schuleschwänzen an. Als Wendell starb — verschwand — und der Skandal an die Öffentlichkeit drang, war Brian derjenige, der reagierte. Jeden Morgen gab es Riesenauseinandersetzungen, weil er partout nicht zur Schule wollte. Er war zwölf Jahre alt und wollte einfach nicht mehr hingehen. Er versuchte es mit allen Mitteln. Er schützte Magenschmerzen und Kopfschmerzen vor. Er tobte. Er weinte. Er bettelte, zu Hause bleiben zu dürfen. Was hätte ich tun sollen? Er sagte: >Mama, alle Kinder wissen, was Daddy getan hat. Alle hassen ihn, und mich hassen sie auch.< Ich habe immer wieder versucht, ihm klarzumachen, daß das, was sein Vater getan hatte, mit ihm nichts zu tun hatte, daß das eine ganz getrennte Sache war und ihn überhaupt nicht betraf, aber ich konnte ihn nicht überzeugen. Er hat es nicht einen Moment lang geglaubt. Und es war wirklich so, daß die

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