Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
und eine alte Frau mit einem Einkaufswagen allein an einem Picknicktisch. Besonders achte ich auf die seltsam aussehenden Männer in abgerissenen Anzügen, die sich lachend und gestikulierend mit unsichtbaren Begleitern unterhalten. Ich habe Angst davor, in diese befremdlichen und beängstigenden Dramen miteinbezogen zu werden. Wer weiß, was für Rollen wir in den Träumen anderer spielen?
Ich duschte, zog mich an und aß, während ich die Zeitung durchsah, eine Schale Flocken. Dann fuhr ich zum Büro und suchte zwanzig frustrierende Minuten lang nach einem Parkplatz, bei dem ich nicht damit rechnen mußte, einen Strafzettel zu bekommen. Gerade als ich aufgeben wollte, rettete mich eine Frau mit einem Lieferwagen, die direkt gegenüber vom Büro einen Platz freimachte.
Ich sah die Post vom Vortag durch. Nichts von Interesse außer der Mitteilung, daß ich eine Million Dollar gewonnen hatte. Genauer gesagt, entweder ich oder die beiden anderen genannten Personen. Im Kleingedruckten hieß es, Minnie und Steve seien in der Tat bereits dabei, ihre Millionen in 40 000-Dollar-Raten zu kassieren. Na, da machte ich mich aber sofort an die Arbeit, riß die perforierten Marken auseinander, befeuchtete sie und klebte sie in die verschiedenen Kästchen. Ich sah mir das übersandte Material aufmerksam an und machte mir ernstlich Sorgen, ich könnte den dritten Preis gewinnen, ein Paar Skier. Was, zum Teufel, sollte ich mit denen dann anfangen? Na, vielleicht konnte ich sie Henry zum Geburtstag schenken. Während ich dann meine Scheckabrechnung machte, um klare Verhältnisse zu schaffen, griff ich zum Telefon und rief mehrmals Renata Huffs nicht eingetragene Nummer an. Ohne Erfolg.
Irgend etwas beunruhigte mich innerlich, und es hatte mit Jaffe und Renata Huff überhaupt nichts zu tun. Es war Lena Irwins gestrige Bemerkung über die Familie Burton Kinsey in Lompoc. Obwohl ich behauptet hatte, der Name sei mir kein Begriff, hatte er etwas in mir ausgelöst, und das ließ mir jetzt keine Ruhe. In vieler Hinsicht basierte mein ganzes Selbstgefühl auf der Tatsache, daß meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Ich wußte, daß mein Vater die Kontrolle über den Wagen verloren hatte, als von einem Steilhang ein Stein heruntergestürzt war und die Windschutzscheibe durchschlagen hatte. Ich saß hinten und wurde beim Zusammenprall nach vorn, gegen den Sitz geschleudert. So saß ich stundenlang eingeklemmt, während die Feuerwehrmänner ihr Bestes taten, um mich aus dem Wrack zu befreien. Ich erinnere mich an das hoffnungslose Weinen meiner Mutter und das Schweigen, das ihm folgte. Ich erinnere mich, eine Hand um die Seite des Fahrersitzes geschoben und die Hand meines Vaters, von dem ich nicht wußte, daß er tot war, umfaßt zu haben. Ich Weiß, daß ich dann bei meiner Tante wohnte, der Schwester Weiner Mutter mit Namen Virginia. Ich nannte sie Gin Gin oder Tante Gin. Sie hatte mir wenig, fast gar nichts über die Familie erzählt. Ich wußte nur — weil diese Tatsache Teil der Unfallgeschichte war — , daß meine Eltern am Tag ihres Todes auf dem Weg nach Lompoc gewesen waren, aber ich hatte nie über den Grund für diese Fahrt nachgedacht. Meine Tante verlor nie ein Wort darüber, und ich fragte nicht danach. In Anbetracht meiner schier unersättlichen Wißbegier und meiner natürlichen Neigung, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen, war es wirklich sonderbar, wie wenig Beachtung ich meiner eigenen Vergangenheit geschenkt hatte. Ich hatte blind akzeptiert, was man mir erzählt hatte und mir aus den spärlichen Tatsachen meine eigene Legende gebastelt. Warum hatte ich den Schleier niemals heruntergerissen?
Ich dachte über mich selbst nach, über das Kind, das ich mit fünf, sechs gewesen war, isoliert, auf einer einsamen Insel. Nach dem Tod der Eltern schuf ich mir in einem Pappkarton, den ich mit Decken und Kissen füllte und einer Nachttischlampe erhellte, meine eigene kleine Welt. Ich war im Essen sehr heikel. Ich pflegte mir Brote zu machen, Käse und eingelegte Gurken, oder Krafts Käse mit Oliven und Piment, in vier genau gleiche Streifen geschnitten, die ich dann auf einem Teller säuberlich arrangierte. Ich mußte alles selbst tun und war sehr pingelig. Verschwommen erinnere ich mich, daß meine Tante immer in der Nähe war. Damals war ich mir ihrer Besorgnis nicht bewußt, aber wenn ich mir heute ihr Bild ins Gedächtnis rufe, weiß ich, daß
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