Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
mit den Tutoren zusammengesetzt haben. Der Schulpsychologe hat schließlich das Handtuch geworfen. Mir hat die Mutter leid getan. Wir haben ja alle gewußt, was die Frau durchzumachen hatte. Er ist ein mißratenes Kind. Gescheit und nett anzusehen, aber ein Mundwerk — unglaublich.« Deputy Tiller schüttelte den Kopf.
»Haben Sie seinen Vater gekannt?«
»Ja, ich habe Wendell gekannt.« Er hatte die Angewohnheit, mit einem zu sprechen, ohne Blickkontakt aufzunehmen. Es wirkte seltsam.
Da wir auf dieser Schiene nicht weiterzukommen schienen, stieg ich um. »Wie sind Sie zu diesem Posten hier gekommen?«
»Ich habe mich um eine Verwaltungsstelle beworben. Jeder, der befördert werden will, muß erst einmal ein Jahr im Gefängnis Dienst schieben. Scheußlicher Job. Mit den Leuten hier komme ich ganz gut zurecht, aber man sieht immer nur künstliches Licht. Man kommt sich vor, als lebte man in einer Höhle. Und dann diese Klimaanlage. Da wäre ich lieber draußen auf der Straße. Ein bißchen Gefahr hat noch nie geschadet. Das hält einen auf Trab.«
Wir blieben vor einem großen Aufzug stehen.
»Brian ist doch aus dem Jugendhaus ausgebrochen, nicht? Warum war er überhaupt drinnen?«
Deputy Tiller drückte auf einen Knopf und bat, man möge uns den Aufzug schicken und uns in den zweiten Stock befördern, wo die Häftlinge in sogenannter gesonderter Verwahrung und die, die ärztliche Betreuung brauchten, untergebracht waren. Der Aufzug hatte innen keinerlei Armaturen, so daß er von den Häftlingen nicht benutzt werden konnte.
»Einbruch, Besitz und Ziehen einer Faustfeuerwaffe, Widerstand bei der Festnahme. Er war übrigens in Connaught, das ist ein Jugendgefängnis mit normalen Sicherheitsmaßnahmen. Das ehemalige Jugendhaus ist heute eine Hochsicherheitsanstalt.«
»Oh, das ist aber eine Veränderung, nicht? Ich dachte, das Jugendhaus sei für Minderjährige, mit denen die Eltern nicht mehr fertig werden.«
»Die Zeiten sind vorbei. Früher waren diese Jugendlichen als >Statustäter< bekannt. Die Eltern konnten sie unter gerichtliche Vormundschaft stellen lassen. Jetzt ist aus dem Jugendhaus eine Jugendstrafanstalt geworden. Die Jugendlichen dort sind hartgesottene Verbrecher. Mord und Totschlag und ein Haufen Bandenkram.«
»Und Jaffe? Was ist mit dem?«
»Der Junge hat keine Seele. Sie werden es in seinen Augen sehen. Völlig leer. Er hat Grips, aber überhaupt kein Gewissen. Er ist ein Soziopath. Wir sind überzeugt, daß er den Ausbruch ausbaldowert hat. Die anderen Kerle hat er nur dazu überredet weil er Leute brauchte, die spanisch konnten. Der Plan sah vor, daß sie sich trennen sollten, sobald sie die Grenze überschritten hatten. Ich weiß nicht, wohin er wollte, aber die anderen landeten im Leichenhaus.«
»Alle drei? Ich dachte, einer der Jungen hätte die Schießerei überlebt.«
»Er ist vergangene Nacht gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.«
»Und das Mädchen? Wer hat sie auf dem Gewissen?«
»Da müssen Sie schon Jaffe fragen. Er ist ja der einzige, der noch übrig ist. Sehr günstig für ihn, und Sie können’s mir glauben, das wird er nutzen.«
Wir hatten den Vernehmungsraum erreicht. Tiller zog einen Schlüsselbund heraus und schloß auf, öffnete die Tür zu dem leeren Raum, in dem ich mit Brian Jaffe zusammentreffen sollte.
»Ich dachte immer, diese jungen Leute seien zu retten, wenn wir nur unsere Arbeit gewissenhaft machen. Jetzt scheint’s, daß wir von Glück sagen können, wenn wir es schaffen, sie von der Straße fernzuhalten.« Er schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf. »Ich werde langsam zu alt für diese Arbeit. Wird Zeit, daß ich mir einen Schreibtischposten suche. Setzen Sie sich. Der Junge wird gleich kommen.«
Der Vernehmungsraum war etwa zwei Meter breit und zweieinhalb Meter lang und hatte kein Fenster. Die Wände waren kahl, beigefarben gestrichen. Ich konnte den Farbgeruch noch wahrnehmen. Ich habe mir erzählen lassen, es gibt eine Mannschaft, die von morgens bis abends nur die Wände streicht. Wenn die Leute oben im vierten Stock fertig sind, müssen sie unten schon wieder anfangen. Es gab einen kleinen Holztisch und zwei Metallstühle mit grünen Kunststoff sitzen. Die Bodenfliesen waren braun. Sonst befand sich außer einer Videokamera in einer Ecke unter der Decke nichts im Zimmer. Ich nahm mir den Stuhl mit Blick zur offenen Tür.
Als Brian kam, war ich zunächst überrascht. Er war klein für seine achtzehn Jahre, und
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