Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
sie meinetwegen tief beunruhigt gewesen sein muß. Ich pflegte mein Essen zu nehmen und in meinen Karton zu kriechen. Dort sah ich mir Bilderbücher an und aß dabei, starrte zur Pappdecke hinauf, summte leise vor mich hin, schlief. Vier Monate oder fünf verkroch ich mich in diesem Nest künstlicher Wärme, in diesem Kokon des Schmerzes. Ich brachte mir selbst das Lesen bei. Ich malte Bilder, machte Schattenspiele an den Wänden meiner Höhle. Ich lernte von selbst eine Schleife binden. Vielleicht glaubte ich, sie würden zurückkommen, diese Mutter, dieser Vater, deren Gesichter ich herbeizaubern konnte, Heimkino für die Waise, ein kleines Mädchen, das bis vor kurzem geborgen im Schoß der kleinen Familie gelebt hatte. Ich weiß heute noch, wie kalt es mir draußen vorkam, wenn ich aus meiner Höhle kroch. Meine Tante ließ mich gewähren. Als im Herbst die Vorschule begann, kroch ich wie ein kleines Tier aus meiner Höhle. Die Vorschule war schrecklich. Ich war andere Kinder nicht gewöhnt. Ich war Lärm und Strenge nicht gewöhnt. Ich mochte Mrs. Bowman, die Vorschullehrerin, nicht, in deren Augen ich sowohl Mitleid als auch Mißbilligung lesen konnte. Ich war ein seltsames Kind. Ich war schüchtern. Ich war immer ängstlich. Nie mehr war später etwas so schlimm wie diese ersten Schuljahre. Ich weiß jetzt, daß die Geschichte mir wie ein Gespenst von Klasse zu Klasse gefolgt sein muß, von Lehrer zu Lehrer, bei jedem Gespräch mit dem Schulleiter gegenwärtig... was sollen wir mit ihr anfangen? Wie sollen wir mit ihren Tränen und mit ihrer Versteinerung umgehen? So intelligent, so fragil, eigensinnig, introvertiert, asozial, labil...
Als das Telefon läutete, fuhr ich zusammen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Hörer von der Gabel riß. »Kinsey Millhone, Privatdetektei.«
»Hallo, Kinsey, hier spricht Tommy. Du weißt schon, Perdido-County-Gefängnis. Brian Jaffes Anwalt hat uns gerade mitgeteilt, daß du mit dem Jungen sprechen kannst, wenn du möchtest. Er schien darüber nicht allzu glücklich zu sein, aber Mrs. Jaffe hat anscheinend darauf bestanden.«
»Ach was?« Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen.
Er lachte. »Vielleicht glaubt sie, daß du für ihn in die Bresche springen und dieses Mißverständnis mit dem Gefängnisausbruch und dem Mord an dem kleinen Mädchen aufklären wirst.«
»Klar«, sagte ich. »Wann kann ich kommen?«
»Jederzeit.«
»Und wen verlange ich? Dich?«
»Nein, frag nach Robert Tiller. Er kennt den Jungen schon aus der Zeit, als er noch für die Schulbehörde die Schulschwänzer aufgelesen hat. Ich könnte mir denken, daß du ganz gern mit ihm reden möchtest.«
»Wunderbar.«
Ehe ich ihm noch richtig danken konnte, hatte er schon aufgelegt. Ich lächelte vergnügt, als ich meine Handtasche nahm und zur Tür ging. Das ist das Nette bei den Bullen — wenn sie einen einmal in Ordnung finden, gibt es kaum jemanden, der großzügiger ist.
Deputy Tiller und ich gingen durch den Korridor. Unsere Schritte die nicht im Takt waren, knallten, seine Schlüssel klapperten. Die Kamera oben in der Ecke behielt uns im Auge. Er war älter, als ich erwartet hatte, Ende Fünfzig und korpulent. Seine Uniform saß knapp. Ich stellte mir vor, wie er nach Schichtende seine Kleider mit der Erleichterung einer Frau abstreifte, die ihren Strumpfgürtel ablegt. Sein Körper trug wahrscheinlich bleibende Male all dieser Schließen und Knöpfe. Sein rotblondes Haar begann über der Stirn zurückzuweichen. Er hatte einen rotblonden Schnauzer, grüne Augen, eine Stupsnase — ein Gesicht, das zu einem Zwanzigjährigen gepaßt hätte. Sein dicker Ledergürtel knarrte bei jedem seiner Schritte, und mir fiel auf, daß sich seine Haltung und sein Gebaren veränderten, wenn er einem Häftling in die Nähe kam. Eine kleine Gruppe, fünf, um genau zu sein, wartete vor einer Eisentür mit vergitterter Glasscheibe. Latinos, Anfang Zwanzig. Sie trugen die blauen Gefängnishosen und weiße T-Shirts, an den Füßen Gummisandalen. Den Vorschriften folgend, sprachen sie nichts und hielten ihre Hände auf dem Rücken gefaltet.
Ich sagte: »Sergeant Ryckman hat mir erzählt, daß Sie Brian Jaffe kennenlernten, als Sie für die Schulschwänzer zuständig waren. Wie lange ist das her?«
»Fünf Jahre. Der Junge war damals zwölf, frech wie eine Lore Affen. Einmal habe ich ihn an einem Tag dreimal erwischt und in die Schule geschleppt. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir uns seinetwegen
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