Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
oben am Lake Nacimiento. Die genauen Daten weiß ich nicht mehr auswendig. Ich kam nach Hause und ging die Rechnungen durch, die während meiner Abwesenheit eingetroffen waren, als mir auffiel, daß der Scheck für ihre Miete fehlte. Ich habe ein paarmal anzurufen versucht, aber es hat nie jemand abgenommen. Jedenfalls kam ein paar Tage später diese Frau vorbei. Sie hatte ihrerseits versucht, Lorna zu erreichen, und ging hinüber, um ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Als sie sich der Hütte näherte, nahm sie den Gestank wahr. Sie kam, klopfte und bat uns, die Polizei zu rufen. Sie sagte, sie sei sich ziemlich sicher, daß da eine Leiche sei, aber ich dachte, ich müsse erst nachsehen.«
»Zuvor haben Sie nichts gemerkt?«
»Mir war aufgefallen, daß irgend etwas stank, aber ich habe mir keine weiteren Gedanken gemacht. Ich weiß noch, daß sich der Typ von gegenüber beschwert hat, aber eigentlich hat niemand von uns gedacht, daß es sich um einen toten Menschen handelte. Eine Beutelratte vielleicht. Hätte auch ein Hund oder ein Reh sein können. Hier in der Gegend leben erstaunlich viele Tiere.«
»Haben Sie die Leiche gesehen?«
»Nein, Madam. Ich nicht. Ich bin bis zur Veranda gekommen und habe mich stehenden Fußes umgedreht und bin zurückgegangen. Ich habe nicht einmal geklopft. Mann, ich wußte, daß etwas nicht stimmte, aber ich wollte nicht derjenige sein, der feststellte, was es war. Ich rief 911, und dann kam die Polizei. Sogar für den Polizeibeamten war es hart. Er mußte sich ein Taschentuch über den Mund halten.« J. D. ging quer durch die Küche zur Speisekammer und holte zwei Dosen Tomatensoße heraus. Dann nahm er einen verbogenen Dosenöffner aus einer Schublade und fing an, den Deckel der ersten Dose zu entfernen.
»Glauben Sie, daß sie ermordet wurde?«
»Sie war zu jung, um zu sterben, ohne daß jemand nachgeholfen hat«, meinte er. Er goß den Inhalt der ersten Dose in die Kasserolle und machte die zweite auf. Der warme, knoblauchgeschwängerte Duft der Tomatensoße stieg vom Herd auf, und ich fing an, darüber nachzudenken, daß Fleisch vielleicht doch nicht so übel war. Wenn andere Leute kochen, falle ich vor Hunger regelmäßig fast in Ohnmacht. Muß etwas mit dem Verlust der Mutter zu tun haben. »Irgendwelche Theorien?«
»Keine einzige.«
Ich wandte mich an Leda. »Und Sie?«
»Ich kannte sie nicht besonders gut. Wir haben den Gemüsegarten in den hinteren Teil des Grundstücks zurückverlegt, dadurch habe ich sie manchmal gesehen, wenn ich Bohnen gepflückt habe.«
»Keine gemeinsamen Freunde?«
»Eigentlich nicht. J. D. kannte Lornas Chef in der Wasseraufbereitungsanlage. So hat sie ja überhaupt erst erfahren, daß wir die Hütte haben. Darüber hinaus hatten wir nichts miteinander zu tun. J. D. möchte mit den Mietern nicht zu vertraulich werden.«
»Genau. Ehe man sich’s versieht, kommen sie einem mit Ausflüchten statt mit dem Scheck für die Miete«, sagte er.
»Und Lorna? Hat sie immer pünktlich bezahlt?«
»Da war sie ganz zuverlässig. Zumindest bis zur letzten Monatsmiete. Sonst hätte ich es auch nicht so lange schleifen lassen«, meinte er. »Ich habe immer gedacht, sie bringt den Scheck schon noch.«
»Haben Sie je irgend jemanden von ihren Freunden kennengelernt?«
»Nicht, daß ich wüßte.« Er drehte sich um und sah Leda an, die verneinend den Kopf schüttelte.
»Fällt Ihnen sonst irgend etwas ein, das mir weiterhelfen könnte?«
Von beiden kam ein gemurmeltes Nein.
Ich holte eine Visitenkarte heraus und schrieb meine Privatnummer auf die Rückseite. »Wenn Ihnen irgend etwas einfällt, würden Sie mich dann verständigen? Sie können unter beiden Nummern anrufen. Ich habe an beiden Apparaten einen Anrufbeantworter. Ich werfe noch einen Blick in die Hütte und melde mich wieder bei Ihnen, wenn weitere Fragen auftauchen.«
»Passen Sie auf die Mücken auf«, sagte er. »Da draußen gibt’s ganz schön dicke Brummer.«
6
Vorsichtig bog ich mit dem VW in die schmale, ungeteerte Straße am rückwärtigen Teil des Grundstücks ein. Früher war sie einmal asphaltiert gewesen, aber nun war ihre Oberfläche grau und rissig und mit Grasbüscheln überwachsen. Meine Scheinwerfer glitten über zwei Reihen immergrüner Eichen, die den holprigen Weg säumten. Die in den Wipfeln ineinander verschlungenen Zweige bildeten einen dunklen Tunnel. Büsche, die früher vielleicht einmal ordentlich gestutzt und zurechtgeschnitten waren, wucherten nun wild
Weitere Kostenlose Bücher