Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
schließlich den Hörer ab, und nachdem sie ein paar kurze Sätze mit dem Anrufer gewechselt hatte, fiel ihr Blick auf mich. Sie hielt den Hörer in meine Richtung und knallte ihn dann derart auf die Theke, daß sie wahrscheinlich jemandem das Trommelfell zerstörte.
Ich schob meinen Teller zur Seite und wand mich aus der Nische heraus, wobei ich aufpaßte, daß ich mir keinen Spreißel in den Oberschenkel bohrte. Eines Tages leihe ich mir eine Schleifmaschine und schmirgle sämtliche hölzernen Sitzflächen säuberlich ab. Ich habe es satt, ständig fürchten zu müssen, von Spießen aus billigem Sperrholz gepfählt zu werden. Rosie war ans andere Ende der Bar gegangen und stellte den Fernseher leiser. Ich ging zum Tresen und nahm den Hörer. »Hallo?«
»Hallo, Kinsey. Cheney Phillips. Wie geht’s?«
»Woher hast du gewußt, wo ich bin?«
»Ich habe mit Jonah Robb gesprochen, und er hat mir verraten, daß du dich öfter bei Rosie’s herumtreibst. Zuerst habe ich es bei dir zu Hause versucht und den Anrufbeantworter erwischt, also habe ich mir gedacht, daß du vielleicht beim Abendessen bist.«
»Gute Detektivarbeit«, sagte ich. Ich wollte gar nicht wissen, wie er auf die Idee verfallen war, mit Jonah Robb über mich zu sprechen. Jonah hatte im Vermißtendezernat der Polizei von Santa Teresa gearbeitet, als ich ihn vor drei Jahren kennenlernte. Ich hatte während einer der bei seiner Frau periodisch auftretenden Anfälle von Ehemüdigkeit eine kurze Affäre mit ihm gehabt. Jonah und seine Frau Camilla waren seit der siebten Klasse zusammen. Sie verließ ihn immer wieder, aber er nahm sie jedesmal wieder auf. Es war eine Art Schülerliebe, die für Außenstehende mit der Zeit ausgesprochen ermüdend wurde. Mir war nicht klar gewesen, was gespielt wurde, und ich begriff nicht, welche Rolle mir zugedacht war. Als ich es kapierte, beschloß ich auszusteigen, aber ich fühlte mich dennoch niedergeschlagen. Als Single macht man mitunter solche Fehler. Auf jeden Fall finde ich es beunruhigend, wenn mein Name ins Gerede kommt. Mir mißfiel die Vorstellung, daß ich im Umkleideraum der hiesigen Polizei Gesprächsthema war.
»Was gibt’s?« fragte ich Cheney.
»Nichts Großartiges. Ich fahre heute am späteren Abend in die untere State Street, weil ich einen Burschen suche, der mir gewisse Informationen geben kann. Ich habe mir gedacht, daß du vielleicht mitkommen möchtest. Eine alte Freundin von Lorna verkauft ihren Hintern meistens auch in dieser Gegend. Wenn sie uns über den Weg läuft, kann ich euch bekannt machen... das heißt, falls du interessiert bist.«
Meine Stimmung sank, da ich den Traum vom frühen Schlafengehen dahinschwinden sah. »Klingt gut. Danke für das Angebot. Wie sollen wir es machen? Soll ich dort unten auf dich warten?«
»Das könntest du machen, aber wahrscheinlich ist es besser, wenn ich vorbeikomme und dich abhole. Ich grase ein großes Gebiet ab und kann schlecht sagen, wo genau ich zu finden bin.«
»Weißt du, wo ich wohne?«
»Klar«, meinte er und rasselte meine Adresse herunter. »Ich komme gegen elf Uhr vorbei.«
»So spät?« krächzte ich.
»So richtig geht der Rummel dort erst nach Mitternacht los«, sagte er. »Irgendwelche Probleme?«
»Nein, alles bestens.«
»Also, bis dann«, sagte er und legte auf.
Ich sah auf meine Uhr und stellte verzweifelt fest, daß ich noch vier Stunden totschlagen mußte. Das einzige, was ich mir wirklich wünschte, war, mich in die Falle zu hauen, aber nicht, wenn ich dann wieder aufstehen mußte. Wenn ich einmal liege, ziehe ich es vor liegenzubleiben. Nach einem Nickerchen fühle ich mich wie verkatert, und das ohne die paar sorglosen Momente des dazugehörigen Saufgelages. Wenn ich bis in alle Herrgottsfrühe mit Cheney Phillips herumkutschieren mußte, sollte ich wohl besser auf den Beinen bleiben. Ich beschloß, die Zwischenzeit mit etwas Arbeit zu überbrücken. Ich trank zwei Tassen Kaffee, bezahlte Rosie mein Abendessen, griff mir Jacke und Handtasche und ging hinaus in die Nacht.
Die Sonne war um Viertel vor sechs untergegangen, und der Mond würde vermutlich nicht vor zwei Uhr morgens aufgehen. Zu dieser Stunde war die ganze Gegend noch hellwach. In fast jedem Haus, an dem ich vorbeifuhr, strahlten die Fenster so hell, als stünden die Zimmer hinter ihnen in Flammen. Motten schwirrten wie weiche Vögel sinnlos gegen Außenleuchten. Der Februar hatte sämtliche Sommerinsekten zum Schweigen gebracht, aber ich konnte immer
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