Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
den Seesack. Den Nachtportier aufzuwecken dauerte länger als die gesamte Abreise. Um drei Uhr zweiundzwanzig war ich auf der 101 unterwegs nach Süden.
Nichts ist so hypnotisch wie ein Highway bei Nacht. Die optischen Reize beschränken sich auf die Straßenmarkierungen, und der Asphalt rauscht in endlosen Streifen vorüber. Die Büsche am Straßenrand verschwimmen ineinander. Unzählige Lastzüge waren auf Achse, und Sattelschlepper transportierten Güter von Neuwagen bis zu Möbeln, von brennbaren Flüssigkeiten bis zu zusammengefalteten Pappschachteln. Wenn ich zur Seite blickte, sah ich ein Städtchen nach dem anderen, in Dunkelheit gehüllt und nur von ordentlich aufgereihten Straßenlaternen erleuchtet. Gelegentlich bot eine Reklametafel etwas Abwechslung. In großen Intervallen tauchten wie Inseln aus Licht Raststätten für Fernfahrer auf.
Ich mußte zwei Kaffeepausen einlegen. Zwar hatte ich mich dafür entschlossen, den Heimweg anzutreten, empfand die Fahrt aber inzwischen als einschläfernd und kämpfte dagegen an, daß mir die Augen zufielen. Das Radio im Mietwagen war eine angenehme Gesellschaft. Ich schaltete von einem Sender zum anderen und lauschte einem Talk-Show-Moderator, klassischer Musik, Country-Songs und unzähligen Nachrichtenblocks. Früher habe ich geraucht, und ich weiß noch, wie ich diese Gewohnheit dazu nutzte, bei Autofahrten die Zeit zu unterteilen. Heute würde ich lieber von einer Brücke fahren, als mir eine anzustecken. Eine weitere Stunde verstrich. Es dämmerte schon fast, der Himmel wurde weiß und die Bäume am Straßenrand begannen, ihre Farbe wieder anzunehmen, momentan Anthrazit und dunkles Grün. Undeutlich war mir bewußt, daß die Sonne wie ein Wasserball in meinem Gesichtsfeld aufging und die Färbung des Himmels von Dunkelgrau über Malve und Pfirsich zu Hellgelb wechselte. Ich mußte die Sonnenblende herunterklappen, um meine Augen vor dem grellen Licht zu schützen.
Um neun Uhr vierzehn hatte ich den Mietwagen abgegeben, mich in meinen VW gesetzt und rangierte nun in einen Parkplatz vor meiner Wohnung. Meine Augen brannten, und mein Körper schmerzte von einer Erschöpfung, die so unangenehm war wie Grippe, aber zumindest war ich zu Hause. Ich ging hinein, stellte fest, daß keine Nachrichten eingegangen waren, putzte mir die Zähne, streifte die Schuhe ab und fiel ins Bett. Wenigstens dieses eine Mal senkte sich der Schlaf auf mich herab wie ein Schlag auf den Kopf, und ich ging unter, unter, unter.
Ich erwachte um fünf Uhr nachmittags. Die acht Stunden hätten ausreichen müssen, aber so ausgehungert, wie ich nach Schlaf war, hatte ich das Gefühl, als müßte ich mich eigenhändig aus Treibsand herausziehen. Ich rang immer noch mit den Schwierigkeiten, mich dem umgekehrten Muster anzupassen, das mein Leben mittlerweile angenommen hatte. Im Morgengrauen ins Bett, am Nachmittag aufstehen. Ich frühstückte um die Mittagszeit und aß spät nachts zu Abend, obwohl diese Mahlzeit oft nicht mehr bot als kalte Cornflakes oder Rührei und Toast, was bedeutete, daß ich zweimal frühstückte. Mir war vage bewußt, daß eine psychische Verschiebung, ein Wandel meiner Wahrnehmung eingesetzt hatte, seit ich die Nacht mit dem Tag vertauscht hatte. Wie bei einer Art Jetlag stimmte meine innere Uhr nicht mehr mit dem Tagesablauf des Rests der Welt überein. Mein gewohntes Selbstgefühl löste sich langsam auf, und ich fragte mich, ob plötzlich eine verborgene Persönlichkeit zum Vorschein kommen würde, wie aus einem langen Schlaf erwacht. Mein Tagleben rief mich, aber ich reagierte merkwürdig zögerlich darauf.
Ich rollte mich aus dem Bett, warf meine schmutzigen Kleider in die Wäsche, duschte und zog mich an. Am Supermarkt hielt ich an und holte mir einen Joghurt und einen Apfel und verspeiste auf dem Weg zu Keplers beides im Auto. Ich hätte noch ein paar Stunden Schlaf gebrauchen können, aber ich spekulierte darauf, mit Lornas Schwestern sprechen zu können, bevor ihre Mutter aufwachte. Wie bei mir verliefen auch ihre Tage und Nächte umgekehrt, und ich fühlte eine merkwürdige Verbundenheit zwischen uns.
Diesmal stand Maces Installateurwagen nicht in der Einfahrt. Ich ließ meinen VW auf dem Randstreifen neben dem weißen Lattenzaun stehen und ging zur Veranda, wo ich klopfte. Trinny machte auf, ließ sich allerdings Zeit. »Oh, hallo. Mom hat eine Doppelschicht gearbeitet und ist noch nicht auf.«
»Das habe ich mir gedacht. Sie hat gesagt, sie würde ein paar
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