Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
dir in allen Einzelheiten. Kein besonders angenehmer Typ, aber das weißt du wahrscheinlich schon. Ich bin zu Hause.«
Ich schlug seine Privatnummer nach und wählte ungeduldig, während ich ein Läuten nach dem anderen hörte. »Na los, komm schon...«
»Hallo?«
Ach du Scheiße. Camilla.
»Könnte ich Lieutenant Robb sprechen? Er hat mich angerufen.«
»Und wer ist da?«
»Kinsey Millhone.«
Totenstille.
Dann sagte sie: »Er ist im Moment beschäftigt. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?«
»Eigentlich nicht. Er hat Informationen für mich. Könnte ich ihn bitte sprechen?«
»Einen Moment«, sagte sie, alles andere als begeistert von der Situation. Ich vernahm ein Poltern, als sie den Hörer auf den Tisch legte, und dann das Klappern ihrer Absätze, während sie davonging. Danach durfte ich all die merkwürdigen häuslichen Geräusche eines Samstagabends im Familienkreis der Robbs genießen. Aus einem anderen Zimmer konnte ich den Fernseher hören. Näher am Telefon klimperte eine seiner Töchter, vermutlich Courtney, die ältere, einen einfachen Walzer auf dem verstimmten Klavier, brachte aber ihren Part des musikalischen Duetts nie zu Ende. Ich lauschte den unzähligen Wiederholungen der ersten fünfzehn oder zwanzig Noten. Die andere Tochter, deren Name ich vergessen habe, fiel immer an der falschen Stelle mit ein, woraufhin das erste Mädchen protestierte und von vorn anfing. Das zweite Mädchen sagte immer wieder »Hör auf!«, was das erste aber nicht tat. In der Zwischenzeit konnte ich Camillas Kommentare zu Jonah hören, der offenbar nicht gesagt bekommen hatte, dass ein Anruf für ihn wartete. Ich vernahm das Geräusch laufenden Wassers und das Klirren von Geschirr. Ich wusste, dass sie das mit Absicht tat, mich bewusst zwang, das kleine häusliche Theaterstück mit anzuhören, das extra für mich gegeben wurde.
Ich pfiff in die Sprechmuschel. Ich rief etwa sechsmal ohne Erfolg »HALLO!« Ich wusste, wenn ich auflegte, würde ich nur ein Besetztzeichen zu hören bekommen, wenn ich erneut anrief. Trapp, trapp, trapp. Ich hörte auf dem Hartholzboden Schritte näher kommen und brüllte »HEY!« Trapp, trapp, trapp. Die Schritte entfernten sich wieder. Noch einmal wurde der Walzer geklimpert. Kreischen der Mädchen. Geplauder zwischen Mann und Frau. Camillas verführerisches Lachen, während sie Jonah mit irgendetwas aufzog. Erneut verfluchte ich mich dafür, dass ich dieses durchdringende Pfeifen immer noch nicht gelernt hatte, das man mit zwei Fingern zwischen den Zähnen erzeugen kann. Ich würde sechshundert Dollar zahlen, wenn mir das jemand beibringen könnte. Wenn man bloß an die Taxis denkt, die man anhalten, und die Kellner, die man quer durch ein überfülltes Lokal auf sich aufmerksam machen könnte. Trapp, trapp, trapp. Jemand näherte sich dem Telefon. Ich hörte Jonah verärgert sagen: »He, wer hat denn den Hörer daneben liegen lassen? Ich erwarte einen Anruf.«
Ich brüllte »JONAH!«, aber nicht schnell genug, um ihn davon abzuhalten, den Hörer aufzulegen. Erneut wählte ich seine Nummer, aber es war besetzt. Wahrscheinlich hatte Camilla eilig den Hörer an einem anderen Apparat abgenommen, um dafür zu sorgen, dass ich nicht durchkam. Ich wartete eine Minute und versuchte es wieder. Immer noch besetzt. Bei meinem vierten Versuch hörte ich das Telefon läuten, aber nur mit dem Erfolg, dass wieder Camilla abnahm. Diesmal sagte sie nicht einmal hallo. Ich hörte, wie sie in mein Ohr atmete.
»Camilla, wenn Sie Jonah nicht ans Telefon holen, steige ich ins Auto und komme auf der Stelle zu Ihnen hinüber.«
»Jonah? Für dich«, zwitscherte sie.
Vier Sekunden später sagte er: »Hallo?«
»Hi, Jonah. Hier ist Kinsey. Ich bin gerade nach Hause gekommen und habe deine Nachricht gehört. Was gibt’s Neues?«
»Pass auf, das gefällt dir bestimmt. Bobbi Deems hat deinen Biker gestern Abend angehalten, weil sein Rücklicht ausgefallen war. Der Typ heißt Carlin Duffy, und es hat sich herausgestellt, dass er mit einem abgelaufenen Führerschein aus Kentucky und einer abgelaufenen Zulassung unterwegs war. Bobbi hat ihn wegen beidem angezeigt und das Motorrad beschlagnahmt.«
»Wo in Kentucky?«
»Louisville, hat sie gesagt. Wenn du ihn haben willst, in dreißig Tagen wird er vor Gericht gestellt.«
»Und bis dahin? Hat er hier eine Adresse?«
»Mehr oder weniger. Er behauptet, er wohnt in einem Gartenhaus in dieser Baumschule neben der 101, Ausfahrt Peterson. Offenbar
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