Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Betreten der Bar erneut suchend nach Duffy um. Nirgends eine Spur von ihm. Shack, der bei Scottie am Tisch saß, entdeckte mich und winkte. Offenbar gab es keinen Weg, wie ich mich hätte entziehen können. Shack musste die Gelegenheit genossen haben, mich auffliegen zu lassen. Scottie drehte sich um, um zu sehen, wem sein Dad winkte, und bedeutete mir, an den Tisch zu kommen. Ich kam mir vor wie ein Maultier, da ich hartnäckig Widerstand leistete und trotzdem in diese Richtung getrieben wurde.
Shack saß am gegenüberliegenden Ende des Tischs. Er stand auf und sagte: »Na, wen haben wir denn da? Wir haben gerade von dir geredet.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Setz dich, setz dich. Schnapp dir ‘nen Stuhl.«
Der andere Mann am Tisch erhob sich kurz und respektvoll und setzte sich wieder — das Ganzkörperpendant dazu, wenn ein Herr einer Dame gegenüber an seinen Hut tippt.
»Ich kann wirklich nicht lange bleiben«, erklärte ich.
»Klar kannst du«, widersprach Shack. Er streckte den Arm aus, packte einen Stuhl vom Nebentisch und zog ihn heran. Resigniert setzte ich mich. Shacks Blick ruhte auf seinem Sohn, und seine Zufriedenheit und sein Stolz verliehen seinen normalerweise schwerfälligen Gesichtszügen etwas Heiteres. Er trug ein kariertes Wollhemd, das oben aufgeknöpft war, um seinem dicken Hals Platz zu lassen. Sein Kumpel musste etwa Mitte Fünfzig sein; sein graues Haar war kurz geschnitten, und sein verwitterter Teint ließ auf Jahre an der Sonne schließen. Wie Shack war auch er massig, mit breiten Schultern, und hatte einen Bauch, der herausstand, als wäre er im sechsten Monat schwanger.
Shack wies mit dem Daumen auf ihn und sagte: »Das ist Del. Kinsey Millhone.«
»Hallo.«
Del nickte, erhob sich wieder halb und schüttelte mir über dem Tisch die Hand. »Del Amburgey. Erfreut, Sie kennen zu lernen.«
Wir ackerten sämtliche Höflichkeitsfloskeln durch, während ich mich innerlich wand und versuchte, mir eine belanglose Bemerkung einfallen zu lassen. »Sind Sie auf Besuch, oder wohnen Sie hier?«
»Ich wohne droben in Lompoc, insofern ist es ein bisschen was von beidem. Ab und zu fahre ich hierher und schaue mir an, was ihr Großstadtleute so treibt.«
»Nicht viel.«
»Also, ganz stimmt das nicht«, wandte Shack ein. »Diese junge Frau war auch Polizistin, als ich noch die Uniform trug. Jetzt ist sie P.D....«
»Was bedeutet P.D.?«, wollte Del wissen.
»Privatdetektivin«, antwortete Shack.
Ich dachte, ich würde taub werden. Er redete weiter. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte, doch der Ton war weg. Ich schaute nicht zu Scott hinüber, spürte aber in aller Schärfe, dass er diese Information mit so etwas Ähnlichem wie Bestürzung aufnahm. Sein Gesichtsausdruck schien sich nicht zu verändern, aber seine Miene verschloss sich. Aus dem Augenwinkel konnte ich seine Hände auf dem Tisch liegen sehen, nach wie vor entspannt, die Finger locker um die Bierflasche gelegt, die er sich schräg an den Mund setzte. Abgesehen von der lässigen Geste, war sein Körper komplett erstarrt. Ich konzentrierte mich wieder auf Shacks Erzählungen und überlegte, ob es irgendeinen Weg gab, den Schaden, den er anrichtete, zu begrenzen.
»...etwa zu der Zeit, als Magruder die Polizei verlassen hat. Wann war das — 1971?«
»Im Frühling 72«, sagte ich. Er wusste genau, wann es gewesen war. Wir fixierten uns kurz, und ich sah ihm an, dass es ihm einen Augenblick der Rache verschaffte, mein Inkognito zu zerstören. Ganz egal, was ich vorhatte, er würde mich restlos bloßstellen. Höchste Zeit, die Kontrolle zu übernehmen, dachte ich, und dem kleinen Scheißer ein bisschen in den Arsch zu treten. »Das war, als Mickey und ich uns getrennt haben. Danach habe ich den Kontakt zu ihm verloren.«
»Bis vor kurzem«, ergänzte Shack.
Ich sah ihn wortlos an.
Er fuhr ungerührt fort. »Ich nehme an, diese beiden Detectives aus L.A. haben auch mit dir gesprochen. Gestern waren sie bei mir. Offenbar glauben sie, du hättest etwas damit zu tun, aber ich habe ihnen gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen könnte. Am Montag bist du bei mir aufgekreuzt. Ich glaube nicht, dass du die Aufmerksamkeit auf dich lenken würdest, wenn du ihn die Woche davor niedergeschossen hättest. So blöd bist du nicht.«
»Das war ein Trick, und du bist darauf reingefallen«, sagte ich. Ich lächelte, doch mein Tonfall war höhnisch.
»Was führt dich nach Colgate?«
»Mickey hatte Tim zehn Riesen geliehen. Ein
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