Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Hause expediert worden war. Und inwiefern hing irgendetwas davon mit den Schüssen auf Mickey zusammen? Ich kannte Mickey gut genug, um zu wissen, dass er irgendetwas auf der Spur war. Aber was?
»Sind Sie noch da oder schon weg?«
Ich blickte auf und sah, dass mich Duffy besorgt anstarrte. Ich stellte mein Bier beiseite, das ohnehin langsam warm wurde. »Ich glaube, ich pack’s dann für heute. Ich brauche Zeit, um das zu verarbeiten. Im Moment ist mir völlig schleierhaft, wie das alles zusammenpasst — wenn überhaupt«, erklärte ich. »Vielleicht möchte ich später noch mal mit Ihnen reden, wenn ich zum Nachdenken gekommen bin. Wo finde ich Sie?«
»Hier oder im Tonk. Soll ich Sie rausbringen?«
»Bitte«, sagte ich. »Es ist stockfinster draußen.«
22
Um Viertel nach elf betrat ich meine Wohnung, erstaunt, dass meine gesamte Unterhaltung mit Duffy nur eine Stunde gedauert hatte. Ich setzte Kaffee auf und stellte die Maschine an, die ich durchlaufen ließ, während ich meinen verspannten Nacken lockerte. Ich spürte einen leisen Kopfschmerz zwischen meinen Augen sitzen wie ein Stirnrunzeln. Ich sehnte mich nach meinem Bett, aber es gab noch zu tun. So lange die Information frisch war, zog ich meine Schreibtischschublade auf und nahm eine neue Packung linierte Karteikarten heraus. Dann holte ich die verschiedenen Gegenstände, die ich bei Mickey hatte mitgehen lassen, aus ihrem Versteck.
Ich saß auf meinem Drehstuhl und notierte mir alles, woran ich mich von dem Abend erinnern konnte. Die Vorgänge im Honky-Tonk entpuppten sich offenbar als weniger finster, als ich mir vorgestellt hatte. Vielleicht war Mickey, wie Tim gesagt hatte, ja wirklich nur hingegangen, um zu trinken und Thea anzumachen. Ich musste gestehen, dass die Jagd nach Frauen typisch für ihn war. Als der Kaffee fertig war, erhob ich mich, schenkte mir einen Becher voll ein und gab Milch hinzu, die nur leicht sauer zu sein schien. Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück, blieb aber stehen und schob nur unschlüssig die Karteikarten umher. Es gab nach wie vor unzählige Kleinigkeiten, die nicht ins Bild passten: dass mit meiner Waffe auf Mickey geschossen worden war und der lange, rauschende Anruf auf meinem Anrufbeantworter, der am Nachmittag des siebenundzwanzigsten März aus seiner Wohnung gekommen war. Wer hatte mich angerufen und warum? Wenn es Mickey gewesen war, warum hatte er dann keine Nachricht hinterlassen? Warum ließ er das Band einfach bis zum Ende laufen? Und wenn es nicht Mickey gewesen war, was war dann der Sinn der Sache? Kontakt zwischen uns zu fingieren? Auf jeden Fall hatte mich das bei der Polizei in ein schlechtes Licht gerückt.
Ich setzte mich wieder und begann mit den Karten herumzuspielen. Letztlich blieb mir nur die Vermutung, dass Mickey dem Mörder von Benny Quintero auf der Spur war. Diese Frage würde an ihm nagen, so lange er lebte. Bennys Tod war nie offiziell als Mord behandelt worden, aber Mickey wusste, dass man ihm die Schuld daran gab, auch wenn es nie zur Anklage gekommen war. Angesichts seiner wechselhaften Geschichte im Polizeidienst hatte seine Verwicklung in die Sache seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt und seinen bereits befleckten Ruf weiter beschädigt. In seinen Augen blieb ihm nur die Wahl, den Beruf, den er liebte, aufzugeben. Danach war mit seinem Leben nicht mehr viel los gewesen: Alkohol, Frauen, eine schäbige Wohnung. Er konnte nicht einmal den miesen Job behalten, den er bei der Pacific Coast Security mit ihren falschen Polizeiuniformen und den billigen Blechabzeichen gefunden hatte. Er musste vom Ausbrechen geträumt haben, davon, sich mit Hilfe seines versteckten Geldes und der gefälschten Papiere einen Weg zu schaffen. Ich drehte ein paar Karten um und sortierte die Fakten in einer zufälligen Reihenfolge.
Beiläufig stellte ich zwei Karten auf ihre Kanten und stützte sie aneinander ab. Dann fügte ich eine dritte hinzu, während ich meine rechte Gehirnhälfte im Leerlauf ließ und einen Irrgarten anlegte. Kartenhäuser zu bauen war auch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen als Kind gewesen. Die erste Etage war leicht, da sie nichts weiter als Geduld und Fingerfertigkeit erforderte. Um eine zweite Etage hinzuzufügen, musste man eine flache Schicht Karten anbringen und geschickt eine »Decke« über dem Unterbau schweben lassen, bis er komplett bedeckt war. Danach begann die richtige Arbeit — das Gleiche noch mal von vom. Zuerst mussten zwei Karten auf dem Unterbau
Weitere Kostenlose Bücher