Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
aussehend. Er war zum Vizepräsidenten, zum Abschlussballkönig und zum Klassenfotografen gewählt worden. Sein Name und sein Gesicht tauchten in vielen verschiedenen Positionen auf: in der Oberstufen-Theatergruppe, bei »Feder und Schriftrolle« und im Chor. Er war Delegierter von »Jugend spricht«, Bürohilfskraft und Bibliotheksassistent. Er schien keine akademischen Ehren anzuhäufen, aber er spielte Football. Ich fand ein Foto von ihm in der Mannschaft von Male High, ein Halfback von dreiundsiebzig Kilo. Na, das war ja interessant. Duncan Oaks und Benny Quintero hatten in derselben Position in verschiedenen Teams gespielt. Sie mussten einander schon damals gekannt haben, zumindest dem Namen nach. Ich dachte über Porter Younts Bemerkung nach, dass dies Duncans glorreichste Jahre gewesen waren und sein Leben danach nie wieder die gleichen Höhen erklommen hatte. Das mochte für Benny Quintero genauso gegolten haben. Rückblickend wirkte es anrührend, dass sich ihre Wege in Vietnam gekreuzt hatten.
Ich schlug das Buch erneut vorne auf und musterte das Bild von Duncan als Abschlussballkönig. Er trug einen Smoking, hatte kurze Haare, war frisch rasiert und hatte sich ein weißes Sträußchen ans Revers gesteckt. Ich blätterte um und betrachtete die Abschlussballkönigin, wobei ich mich fragte, ob sie ein Pärchen gewesen oder einfach unabhängig voneinander zum selben Anlass gewählt und geehrt worden waren. Darlene LaDestro. Also, diesen Typ kannte ich. Lange blonde Haare, die oben zu einem Wirbel zusammengesteckt waren, kräftige Nase und aristokratisches Gehabe. Sie sah vornehm aus, vertraut, wie die Mädchen in meiner Schule, die aus betuchten Familien stammten. Obwohl sie nicht in herkömmlichem Sinne hübsch war, war Darlene der Typ Frau, der gut altert. Wenn sie später zu Klassentreffen anreiste, hätte sie einen Mann geheiratet, der ihr gesellschaftlich ebenbürtig war, wäre nach wie vor spindeldürr und trüge geschmackvoll mit grauen Strähnen durchzogenes Haar. Darlene LaDestro. Was für ein Name, dachte ich höhnisch. Es stand zu vermuten, dass sie den bei der erstbesten Gelegenheit abgelegt hatte und sich nun Dodie nannte oder Dessie oder...
Ein eisiges Frösteln durchlief mich, und ich stieß unwillkürlich einen Laut der Verblüffung aus. Mrs. Calloway blickte auf, und ich schüttelte den Kopf, um zu vermitteln, dass mir nichts fehlte — obwohl das nicht stimmte. Kein Wunder, dass mir Darlene bekannt vorkam. Sie hieß momentan Laddie Bethel, erfreute sich bester Gesundheit und lebte in Santa Teresa.
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Ich verschob meinen Rückflug und verlegte die Reservierung von Mittwochnachmittag auf Donnerstagmorgen, damit mir genug Zeit blieb, um Erkundigungen einzuziehen. Ich hatte die Jahrbücher von 1958, 1959, 1960, 1961 und 196z nach einem Hinweis auf Mark Bethel durchgekämmt, ihn aber nirgends erwähnt gefunden. Falls Laddie ihn damals schon gekannt hatte, dann jedenfalls nicht, weil er die Louisville Male High School besuchte. Ich machte mir zahlreiche Kopien der Jahrbuchseiten, auf denen Laddie und Duncan abgebildet waren, sowohl zusammen als auch einzeln, bis zurück zu ihrem ersten Jahr. Auf vielen ungestellten Klassenfotos standen sie sogar direkt nebeneinander.
Ich legte den Stapel Jahrbücher auf Mrs. Calloways Tisch, verließ die Schule und fuhr durch die Gegend, bis ich einen Drugstore fand, wo ich mir ein Päckchen Karteikarten und einen Stadtplan kaufte, der die unzureichende Karte ersetzen sollte, die ich vom Autoverleih bekommen hatte. Als ich wieder in meinem Mietwagen saß, fuhr ich zur Stadtbibliothek, die nicht weit entfernt lag. Ich erkundigte mich an der Information und wurde in die Abteilung für Nachschlagewerke verwiesen. Dann machte ich mich an die Arbeit. In den alten Adress- und Telefonbüchern fand ich einen LaDestro und notierte mir dessen Adresse. Den Firmenadressbüchern aus den Jahren 1959, 1960 und 1961 entnahm ich, dass Laddies Vater Harold LaDestro ein Maschinengeschäft in der Market Street besessen hatte. Sein Beruf wurde mit Feinmechaniker und Erfinder angegeben. Wegen Laddies Haltung, ihrer Eleganz und ihrer aristokratischen Art hatte ich angenommen, dass sie aus reichem Hause stammte, aber vielleicht hatte ich mich da geirrt. Auf jeden Fall besaß sie jetzt Geld. Damals war ihr Vater allerdings Ladeninhaber gewesen, und es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass seine Geschäftsinteressen — worin sie auch bestanden haben mochten — über das Offenkundige
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