Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
murmelte: »Danke«, und sie sagte: »Keine Ursache.«
Ich starrte das Essen an, das aussah wie ein See kochend heißen gelben Schleims, der mit Paprika überstäubt war und in dem etwas Klumpiges ruhte. »Was ist denn das?«
»Essen Sie’s, dann wissen Sie Bescheid.«
Mit mulmigen Gefühlen griff ich zu meiner Gabel und probierte ein winziges Stückchen. Das Hot Brown entpuppte sich als offenes Truthahnsandwich mit Speck und Tomatenscheiben, überbacken mit der köstlichsten Käsesoße, die je meine Lippen berührt hat. Ich schnurrte wie ein Kätzchen.
»Hab ich’s doch gewusst«, sagte er zufrieden.
Als ich fertig war, wischte ich mir den Mund und trank einen Schluck Bier. »Was ist mit Duncans Eltern? Hat er noch Verwandte hier in der Gegend?«
Yount schüttelte den Kopf. »Revel ist vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt gestorben — 1974, wenn ich mich recht erinnere. Seine Mutter kam drei Jahre später durch einen Schlaganfall ums Leben.«
»Geschwister oder Cousins?«
»Keinen Einzigen«, antwortete er. »Duncan war ein Einzelkind und sein Vater auch. Und ich glaube nicht, dass Sie von der Familie seiner Mutter noch jemanden finden werden. Ihre Leute stammten aus Pike County, drüben an der Grenze zu West Virginia. Bettelarm. Als sie Revel geheiratet hat, hat sie jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen.«
Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht. »Zeit, nach Hause zu gehen. Meine Sendung fängt in zwei Minuten an.«
»Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Darf ich Sie zu dem Essen einladen?«
Yount warf mir einen Blick zu. »Man merkt, dass Sie nie im Süden gelebt haben. Eine Dame lädt einen Herrn nicht zum Essen ein. Das ist sein Vorrecht.« Er fasste in die Tasche, zog ein Bündel Geldscheine heraus und warf mehrere davon auf den Tresen.
Auf seine Empfehlung hin verbrachte ich die Nacht im Leisure Inn am Broadway. Ich hätte ja gern das Brown Hotel ausprobiert, aber es sah viel zu schick aus für jemanden wie mich. Das Leisure Inn war schlicht: ein zweckmäßiges Etablissement aus Resopal, Nylonteppichen, Schaumgummikissen und einer Schicht knisterndem Plastik unter dem Betttuch, für den Fall, dass ich mich nass machte. Ich rief bei der Airline an und besprach die Möglichkeiten für meinen Rückflug. Den ersten (und einzigen) freien Platz gab es auf einem Flug um drei Uhr am nächsten Nachmittag. Ich sicherte ihn mir und fragte mich, was ich bis dahin anfangen sollte. Ich erwog eine Stippvisite bei der Louisville Male High School, wo Duncan 1961 seinen Abschluss gemacht hatte. Insgeheim bezweifelte ich, dass es viel herauszufinden gab. Porter Yount hatte ein unsympathisches Bild des jungen Duncan Oaks gezeichnet. Für mich klang er oberflächlich, verwöhnt und intrigant. Andererseits war er aber fast noch ein Jugendlicher gewesen, als er umkam — höchstens zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahre alt. Ich vermute, die meisten von uns sind in diesem Alter ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Mit zweiundzwanzig war ich bereits verheiratet gewesen und geschieden. Mit dreiundzwanzig war ich nicht nur mit Daniel verheiratet, sondern hatte auch bei der Polizei aufgehört und war total am Schwimmen. Ich hatte mir eingebildet, ich wäre reif, aber ich war dumm und unwissend. Mein Urteilsvermögen war mangelhaft und meine Wahrnehmung getrübt. Wie kam ich also dazu, über ihn zu urteilen? Er hätte zu einem anständigen Mann werden können, wenn er länger gelebt hätte. Während ich darüber sinnierte, empfand ich einen merkwürdigen stellvertretenden Kummer wegen all der Gelegenheiten, die ihm entgangen waren, der Lektionen, die er nie gelernt hatte, und der Träume, die er sich wegen seines frühen Todes nie hatte erfüllen können. In gewissem Sinne war ein Besuch der Male High School eine Art, ihn zu ehren. Wer oder was auch immer er gewesen war, ich konnte ihm zumindest meinen Respekt zollen.
Am nächsten Morgen um zehn parkte ich meinen Mietwagen in einer Seitenstraße nicht weit von der Louisville Male High School, an der Ecke Brook Street und Breckinridge. Das Gebäude war dreistöckig und bestand aus dunkelrotem Backstein mit weißen Betoneinfassungen. Das Viertel, in dem es stand, setzte sich aus schmalen roten Backsteinhäusern zusammen, zwischen denen enge Gassen lagen. Viele davon sahen aus, als würde es drinnen seltsam riechen. Ich stieg die Betontreppe hinauf. Über dem Eingang kauerten zwei gnomenhafte Gelehrte in identischen Nischen und lasen irgendwelche
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